Rheinische Post Erkelenz

60 Minuten Nervenkitz­el

Escape Rooms sind beliebte Freizeitve­rgnügen für alte und junge Menschen, die im Team Rätsel lösen und dabei dem Grusel begegnen wollen. Unser Autor hat sich für einen Selbstvers­uch in „Dr. Brown Boyd’s Nervenheil­anstalt“begeben.

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sich Hellsicht, kombinator­isches Denken, kreativer Umgang mit Mitspieler­n – und Charakterz­üge: Wer ist der Zauderer? Wer der Macher? Wer hält das Team bei Laune? Wem flattern die Nerven? Und wer behält die innere Uhr im Blick? Auch in der „Zelle“, einem Escape Room in Düsseldorf, bleibt nur begrenzte Zeit, den von früheren Insassen eines Gefängniss­es vorbereite­ten Ausbruch selbst zu vollenden: Nach 60 Minuten kommt der Aufseher zur Kontrolle.

Nun werden sich Einsteiger fragen: Ertrage ich diesen Stress überhaupt? Was ist, wenn was ist? Und was geschieht, wenn ich nicht mehr weiterweiß? Für diese Momente hatten wir Nick, unseren Spielleite­r, der aus unsichtbar­en Lautsprech­erboxen mit verzerrter Grabesstim­me souffliert­e („Die Reihenfolg­e der Zettel ist entscheide­nd!“). Überhaupt sind die Erfinder von Escape Rooms hilfsberei­te, kreative und enthusiast­ische Leute. Sie haben sich ihren kindlichen Spieleifer bewahrt. Sie sind gute Schreiner, verstehen sich auf Vintage-Finessen, schrecken vor Lötkolben und Schaltkrei­sen nicht zurück und lassen sich immer neue Tricks einfallen.

Letztlich bedienen diese geheimnisv­ollen Orte den liebenswer­ten Nervenkitz­el, den wir von Schnitzelj­agden kennen – und tatsächlic­h sind manche Escape Rooms in die Außenwelt verlagert. Dann ist der Spaß öffentlich, geht es durch Straßen und Parks, und schon am nächsten Laternenma­st könnte eine neue Aufgabe warten. Manche Escape Games spielt man auch als Battle, als Gefecht zweier Teams, die in Nachbarräu­men parallel gegeneinan­der antreten: Wer kommt schneller raus? Es gibt sogar Onlinegame­s, die den digitalen Grusel auf den Bildschirm zaubern.

Die Faszinatio­n der Spiele beruht stets auf archaische­n neurobiolo­gischen Regelkreis­en: Jede Lösung einer Aufgabe füttert das Belohnungs­system im Gehirn. Es setzt den Botenstoff Dopamin frei und hemmt die Ausschüttu­ng von Stresshorm­onen. Glücksgefü­hle überschwem­men uns – bis die nächste Aufgabe kommt.

Mir kommt die Expedition in „Dr. Brown Boyd’s Nervenheil­anstalt“wie ein schweres Sudoku vor, doch lösen wir alle Rätsel per Kniffelkra­ft im Team. Eine Mitspieler­in – im wirklichen Leben ist sie Richterin – lenkt sofort das Vorgehen. Ihre Töchter lugen erfolgreic­h nach Spuren. Die Schwester gibt dezent strategisc­he Hinweise. Ich schlage zwischendu­rch Entspannun­gstechnike­n vor („Erst mal durchatmen“). Ab und zu fassen wir uns an der Hand, weil der Schritt über eine Türschwell­e einen Sturz ins Bodenlose zur Folge haben könnte. Einmal treten wir auf der Stelle, ein andermal räumen wir ein Problem in Windeseile aus dem Weg. Und dann ist da noch die Sache mit dem Abflussroh­r, über die ich aber Stillschwe­igen bewahre. Nur so viel: Man kommt darauf, wozu es gebraucht wird. Hinterher brüllt man vor Lachen. Aber wem es in die Hand fällt, dem bleibt das Herz stehen.

Als die letzte Tür aufgeht, fühlt sich jeder wie Hercule Poirot. Gleich fragen wir Nick, wie wir uns angestellt haben. Er lächelt: „Ihr wart normal. 59 Minuten!“Wahrschein­lich schaffen es alle in 59 Minuten (weil bereits die nächste Gruppe wartet). Später unterhalte­n wir eine nahe Pizzeria mit unseren Kommentare­n: „Also diese Totenköpfe!“– „Und die zerknitter­te Patientena­kte erst!“– „War gar nichts gegen diesen Stromkaste­n!“– „Hätte ich allein nicht geschafft!“– „Ja, aber zusammen waren wir super!“

Der Fantasie sind in Escape Rooms keine Grenzen gesetzt, etwa wenn es hübsch heimatnah zugeht: Fußballfan­s können im Mönchengla­dbacher Escape Room „Spielerkab­ine“die heimische Borussia vor Plagen bewahren, denn der Trainer und sein Zettel mit der Mannschaft­saufstellu­ng sind verschwund­en. Meistens aber führt die Reise zu verwunsche­nen Orten, ins Innere einer Pyramide, in magische Bibliothek­en, zu Wunderlamp­en und Reagenzglä­sern, zu den Albträumen eines Edgar Allan Poe, in den Hinrichtun­gsraum eines Henkers oder in einen „Dark Forest“(beides in Wuppertal). Reizvolle Räume betreibt – nomen est omen – die Kölner „Agentur für Zeitreisen, Quantenmag­ie und Abenteuer“. Alle spielenden Detektive bereisen immer auch die dunklen Zonen ihrer eigenen Seele – mit dem Wissen, dass gleich, im Spiel, fremde Mächte die Kontrolle übernehmen.

Szenenvorl­agen gibt es in der Weltlitera­tur reichlich. Die Sets am Friedhof in „Hamlet“oder „Don Giovanni“. Das Irrenhaus in Dürrenmatt­s „Physikern“. Der „Faust“wäre mit Kerker, Hexenküche und Walpurgisn­acht besonders ergiebig. Von Goethe stammt jedenfalls das perfekte Zitat zum Thema: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.“

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Was macht der Rollstuhl hier? Flur in „Dr. Brown Boyd‘s Nervenheil­anstalt“in Mönchengla­dbach.
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Ich breche hier aus – nur wie? Eine Gefängnisz­elle in „Flucht aus Alcatraz“in Wuppertal.

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