Die Wahrheit des anderen erkennen
Rund 20 Prozent der arabischen Bürger Israels fühlen sich als Palästinenser. Dennoch wurden sie beim Angriff der Hamas genauso attackiert wie jüdische Israelis. Ob das geteilte Leid Juden und Araber näher zusammenrücken lässt oder zu mehr Misstrauen führt
Das letzte bekannte Foto von Samer Talalka zeigt den jungen Mann in einer schmalen Straße im Gazastreifen: Er hält die Hand vor sein Gesicht, vielleicht zum Schutz, während drei Männer ihn durch eine Menschenmenge zerren. Terroristen entführten den 24-jährigen Talalka am 7. Oktober des vergangenen Jahres nach Gaza, ungeachtet der Tatsache, dass er Arabisch sprach wie sie: Er stammte aus der Beduinenstadt Hura im Süden Israels. Mitte Dezember wurde Samer Talalka gemeinsam mit zwei weiteren Geiseln im Gazastreifen erschossen – von Soldaten der israelischen Armee, die die Drei fälschlicherweise für eine Bedrohung hielten.
Die Terroristen der Hamas unterschieden bei ihrem Massaker nicht zwischen Nationalität oder Religion. Viele der arabischen Bürger Israels, rund 20 Prozent der Bevölkerung, definieren sich als Palästinenser; manche haben familiäre Verbindungen ins Westjordanland oder in den Gazastreifen. Die von ihnen, die sich am 7. Oktober in den angegriffenen Gebieten befanden, wurden von der Hamas ebenso niedergemetzelt wie jüdische Israelis, thailändische Gastarbeiter oder tansanische Austauschstudenten. Es gibt aber auch anrührende Geschichten von diesem Tag: von arabischen Sanitätern, die ihr Leben riskierten, um jüdischen Verletzten zu helfen, oder von einem Beduinen, der mit seinem Bus unter dem Gewehrfeuer der Terroristen 30 Menschen rettete.
Manche Beobachter in Israel meinen deshalb, das geteilte Leid durch den Terrorangriff lasse jüdische und arabische Bürger näher zusammenrücken. Andere berichten von gestiegenem Misstrauen, von Furcht und Einschüchterung. Vermutlich ist beides wahr. Aber in wenigstens einigen Geschichten verbirgt sich, was dieses Land und seine Nachbarn derzeit so dringend brauchen: Hoffnung.
„Ich glaube, wir werden an den 7. Oktober zurückdenken als das erste kollektive Ereignis in Israels moderner Geschichte“, sagt Mohammad Zoabi, ein 25-jähriger Politikstudent und Queer-Aktivist aus Tel Aviv. Eine Umfrage des Israel Democracy Institute, einer liberalen Denkfabrik, scheint seine Deutung zu stützen. Seit dem Jahr 2003 fragt das Institut regelmäßig ab, ob sich verschiedene Bevölkerungsgruppen als „Teil des Staates Israels und seiner Probleme“sehen. Noch nie war die Zustimmung unter sämtlichen Gruppen so hoch wie nach dem 7. Oktober. 70 Prozent der arabischen (und 94 Prozent der jüdischen) Befragten antworteten mit „Ja“. Noch im Juni, fünf Monate zuvor, hatte die Zustimmungsrate unter der arabischen Minderheit bei nur 48 Prozent gelegen. Mohammad Zoabi scheint mit seinem Gefühl nicht allein zu sein, wenn er sagt: „Der 7. Oktober hat mich zum Israeli gemacht.“
Schon vor dem Angriff der Hamas indes hatte Zoabi sich stärker mit dem israelischen Staat identifiziert als viele seiner arabischen Mitbürger – trotz des anti-arabischen Rassismus, den er der Regierung vorwirft. Der 7. Oktober aber habe ihn „entfiltert“, sagt er und meint: Er spricht nun ohne Filter, ohne Furcht vor der Reaktion anderer über seine Wahrheiten, seine Erfahrungen, seine Identität als arabischer Bürger Israels.
Zwei Wochen nach dem Terrorangriff tat er sich mit einem jüdischen Freund zusammen, Josh Drill, der zu den Anführern der Protestbewegung gegen die Justizreform der Regierung gehörte, und produzierte ein kurzes Video für die sozialen Medien, in denen beide die Hamas verurteilen. Nur ohne diese „mörderische und genozidale Terrororganisation“, sagt Zoabi darin, könnte es „dauerhaften und nachhaltigen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geben.“
Vor einigen Wochen fuhr er zusammen mit Freunden in den Süden, zu den Stellungen israelischer Truppen nahe dem Gazastreifen. Gemeinsam grillten sie dort für die
Soldaten, als Geste der Solidarität. Zugleich, sagt er, widere es ihn an zu sehen, dass manche jüdische Israelis die Zerstörung feierten, die der Krieg über den Gazastreifen gebracht hat. „Jedes Mal, wenn ich sehe, was im Gazastreifen passiert, bricht es mir das Herz.“
Zumindest darin dürfte Vivian Rabia ihm zustimmen. Rabia ist 56 Jahre alt, sie lebt in Ramle, einer gemischt jüdisch-arabischen Stadt südlich von Tel Aviv und definiert sich als Palästinenserin. „Es ist eine schwierige Zeit“, sagt sie, „sehr kompliziert, sehr bedrohlich“. Rabia leitet das Offene Haus in Ramle, eine Begegnungsstätte für jüdische und arabische Bürger unter dem Dach des Rossing Center, einer Nichtregierungsorganisation für Dialog und Bildung. In normalen Zeiten treffen sich hier jüdische und arabische Studenten und planen gemeinsam soziale Projekte.
Seit dem 7. Oktober ist jedoch nichts mehr normal. Rabia und ihre Teamkollegen vom Rossing Center haben beschlossen, beide Gruppen bis auf Weiteres getrennt voneinander zu betreuen. „Die Nerven liegen blank“, jedes unbedachte Wort könne zur Explosion führen.
Vivian Rabia setzt sich seit Jahrzehnten für palästinensische Selbstbestimmung ein. Zu Zeiten der Zweiten Intifada Anfang des Jahrtausends ging sie auf die Straße, um zu demonstrieren, manchmal mehrmals am Tag in verschiedenen Städten. Doch jetzt, sagt sie, habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben Angst, ihre Meinung zu sagen.
Es kursieren in diesen Tagen unzählige Geschichten in der arabischen Minderheit von Menschen, die in sozialen Medien ein Bild von verletzten Kindern in Gaza teilten und deshalb vom Vorgesetzten gewarnt, wenn nicht gar gefeuert worden seien. Außerdem wird von Studenten erzählt, die ein „Like“unter einen Text gesetzt haben, der für Empathie mit den Opfern in Gaza plädiert, und die deshalb von Kommilitonen und Lehrpersonal schikaniert worden seien. „Es herrscht eine Atmosphäre der Einschüchterung“, meint Rabia. Sie selbst schweige daher. Und fühlt sich furchtbar dabei.
Auch der jüdische Israeli Nadav Shofet kennt solche Geschichten. Shofet, 30 Jahre alt, arbeitet als Community-Leiter bei Omdim Beyachad („Wir stehen zusammen“), einer Nichtregierungsorganisation, die für ein friedliches Zusammenleben zwischen jüdischen und arabischen Bürgern einsteht. Nach dem 7. Oktober habe die Gruppe eine Hotline für Menschen in Notlagen eingerichtet, erzählt er, an die von Diskriminierung betroffene arabische Bürger sich wenden können. Außerdem hat die Organisation im ganzen Land sogenannte jüdischarabische „Solidaritätsgarden“gegründet, die gemeinsam Menschen helfen, die in der einen oder anderen Form vom Krieg betroffen sind: Angehörige von Geiseln, Bewohner der grenznahen Regionen, die ihre Häuser verlassen mussten, Menschen, die Verwandte verloren haben. „Wir sehen ein großes Engagement zwischen Juden und Arabern“, erzählt Shofet.
Zum letzten größeren militärischen Schlagabtausch zwischen Israels Armee und Terrorgruppen in Gaza kam es im Frühling 2021. Damals gingen in gemischten israelischen Städten wie Ramle, Lod und Akko jüdische und arabische Mobs aufeinander los; die Bilder von verbrannten Autos, eingeschlagenen Scheiben und zerstörten Geschäften weckten damals Assoziationen mit einem Bürgerkrieg.
Manche Beobachter hatten befürchtet, der 7. Oktober und der anschließende Krieg könnten eine ähnliche Gewaltwelle erzeugen. Das ist jedoch nicht geschehen. Arabische und jüdische Bürger Israels arbeiten und studieren im ganzen Land friedlich Seite an Seite. Etwa am Arava-Institut für Umweltstudien im Kibbuz Ketura, weit im Süden des Landes in der Negevwüste. Der Direktor des Instituts ist Tareq Abu Hamed, ein 51-jähriger Wissenschaftler und Ingenieur aus Ostjerusalem, der auf die Frage nach seiner Identität antwortet: „Das ist mir wirklich egal. Wir sind alle Menschen. Es ist mir wichtig zu sagen: Ich bin Palästinenser, es ist mir wichtig zu sagen: Ich bin Israeli. Aber welchen Sinn ergibt das, wenn auf beiden Seiten Menschen sterben?“
Die erste Woche nach dem 7. Oktober sei auch für das Institut äußerst schwierig gewesen, erzählt er. „Wir haben uns auf Solidarität und Empathie konzentriert und alles dafür getan, die Kommunikationskanäle mit unseren arabischen Partnern offenzuhalten.“
Abu Hamed glaubt, dass Israels arabische Bürger trotz aller Schwierigkeiten in dieser Zeit eine wichtige Rolle spielen können – für das Land und die Region. „Wir kennen beide Gesellschaften sehr gut: die israelische und die palästinensische“, sagt er. „Wir spüren den Schmerz auf beiden Seiten. Deshalb können wir die Brücke sein, der Vermittler, der beiden Seiten dabei hilft, das Menschliche des jeweils anderen zu sehen. Wir können unsere eigenen Narrative haben, unsere eigenen Wahrheiten. Aber das muss uns nicht davon abhalten, die Wahrheit des anderen zu erkennen.“
„Es ist mir wichtig zu sagen: Ich bin Palästinenser, es ist mir wichtig zu sagen: Ich bin Israeli“Tareq Abu Hamed Direktor des Arava-Instituts