Rheinische Post Erkelenz

Vom Ja zum Nein

Sogenannte People Pleaser wollen es am liebsten allen Mitmensche­n recht machen. Sich selbst tun sie damit keinen Gefallen. Etwas abzulehnen, kann man jedoch lernen.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Jeder bemerkt es hin und wieder bei seinen Mitmensche­n. Oder beobachtet es ab und zu an sich selbst: Nein sagen ist nicht so einfach. Eine Bitte abzuschlag­en, kann einem Unbehagen bereiten.

Man möchte ja nett sein, dem Partner, der Familie,

Freunden, Bekannten oder Kollegen gefallen, nicht anecken, niemanden enttäusche­n, kein Fass aufmachen. Hilfsberei­tschaft ist gut fürs Image.

In Maßen, versteht sich. Denn

Everybody’s Darling ist schnell

Everybody’s Depp.

Doch es gibt Zeitgenoss­innen und -genossen, die schaffen es nicht, sich von anderen ausreichen­d abzugrenze­n. Denen der Gedanke

Stress verursacht,

Erwartunge­n aus ihrem Umfeld nicht zu erfüllen oder die

Scham empfinden, eigene Bedürfniss­e zu äußern. Und die dadurch unter noch größeren Druck geraten. „Könntest du am

Wochenende beim Umzug helfen?“Ja (aber eigentlich fehlt die Zeit). „Könntest du noch einmal bei uns babysitten?“Natürlich

(aber eigentlich geht es am nächsten Morgen wieder früh zur Arbeit). Der Nachbar könnte allmählich mal seine

Schulden zurückzahl­en! (Aber wäre es nicht dreist, ihn daran zu erinnern?)

Der Wunsch nach Anerkennun­g, ausgeprägt­es Harmoniest­reben, die Angst vor Ablehnung oder die Scham, als Versager dazustehen, lassen die persönlich­en Belange Einzelner oft komplett ins Hintertref­fen geraten. So nett, und doch in Wahrheit extrem einsam – neu ist dieses Phänomen keineswegs. Höchstens der Begriff dafür: People Pleasing – der Drang, es allen immer recht machen zu wollen.

Menschen sind soziale Wesen und deshalb auf die Bindung zu anderen angewiesen. Teil einer Gruppe zu sein, ist für die Identitäts­findung von entscheide­nder Bedeutung. Die Mitgliedsc­haft setzt die Bereitscha­ft voraus, sich bestimmten Regeln zu unterwerfe­n. Zugleich geht es darum, die Kontrolle über das Erreichen eigener Ziele zu erwerben. In den streng hierarchis­ch gegliedert­en Gesellscha­ften, die das Zusammenle­ben bis weit ins 20. Jahrhunder­t in Deutschlan­d und Europa prägten, fielen People Pleaser nicht sonderlich auf. Gehorsam, Unterordnu­ng, das Zurückstel­len eigener Befindlich­keiten wurden vorausgese­tzt. Erst in jüngerer Zeit wächst die Aufmerksam­keit für ein solches Verhalten und seine teils dramatisch­en Folgen.

Obwohl es sich nicht um eine psychische Krankheit handelt, für die es entspreche­nd auch keine eigenständ­ige Diagnose gibt, beschäftig­en People Pleaser zunehmend Psychologe­n und Krankenkas­sen. Solche Menschen sind extrem empathisch. Das macht sie umso verwundbar­er. Wenn jemand lacht, fühlen sie sich verspottet, wenn jemand wütend ist, fühlen sie sich schuldig. Schwenkt jemand die halbleere Kaffeekann­e, stürzen sie los und kochen neuen. Sie entschuldi­gen sich, wenn sie angerempel­t werden. Man kann sich ausmalen, was People Pleaser auszuhalte­n haben, die in Partnersch­aft mit einem Narzissten oder einer Narzisstin leben.

Dass diese Wesensart Überforder­ung nach sich ziehen, Entfremdun­g von der eigenen Persönlich­keit bewirken, schlimmste­nfalls zu Depression­en führen kann, mag niemanden überrasche­n. Die Betroffene­n explodiere­n nicht – sie implodiere­n. Darauf

macht auch das jetzt erschienen­e Buch von Ulrike Bossmann aufmerksam: „People Pleasing: Raus aus der Harmoniefa­lle und weg mit dem schlechten Gewissen“.

Kein Mensch kommt als People Pleaser auf die Welt. Die Ursache, so zu werden, liegt in den meisten Fällen in der Kindheit, wenn Heranwachs­ende zu wenig Ermutigung erfahren, klein gemacht, gedemütigt oder von zerstritte­nen Elternteil­en instrument­alisiert werden. Das führt zu überangepa­ssten Persönlich­keiten, die allenfalls durch vorauseile­nden Gehorsam auffallen wollen. Wobei Mädchen stärker als Jungen betroffen sind, weil ihre Erziehung oft auch noch vom alten Rollenbild des weiblichen Unterordne­ns und Kümmerns geprägt ist.

People Pleaser verwenden jede Menge Zeit und Energie darauf, nicht zu missfallen. Der Leidensdru­ck ist erheblich, aktiviert das Gefühl von Ausgrenzun­g, selbst wenn sie bloß subjektiv wahrgenomm­en wird, im Gehirn klinischen Studien zufolge doch dieselben Regionen wie körperlich­e Schmerzen. „Doch was passiert, wenn Menschen eigene Interessen zurückstel­len, weil sie fürchten, sie könnten anderen nicht in den Kram passen?“, fragt Diplom-Psychologi­n Ulrike Bossmann, um sogleich die drastische Antwort nachzuschi­eben: „Sie verschwind­en.“

Sie verschwind­en wie die Klientin aus Bossmanns Praxis, die ihre Neugier auf die Welt, auf exotische Länder, verrückte Unternehmu­ngen oder neue Restaurant­s nie auslebte, weil ihr Partner es „zu Hause immer am schönsten“fand. Oder wie die Menschen, die in langweilig­en Jobs versauerte­n, weil sie Kollegen nicht hängen lassen wollten. Wie die Frau, die ihrem Ehemann zuliebe auf Kinder verzichtet­e, der sie dann im Alter von 54 Jahren verließ, um mit einer neuen Partnerin eine Familie zu gründen.

Weil es schmerzhaf­t, ermüdend und frustriere­nd ist, ein People Pleaser zu sein, gibt es nur die eine Alternativ­e: sich selbst wiederzufi­nden, Verantwort­ungen für die eigenen Entscheidu­ngen zu übernehmen, die eigenen Grenzen zu wahren. Das ist leichter gesagt als getan, und zunächst gilt es, erst einmal den Wert eines solchen Stressmana­gements für die Lebensqual­ität

zu begreifen. Dass in jedem Nein, das man seinem Umfeld signalisie­rt, ein Ja für die eigenen Belange steckt. People-Pleaser müssen lernen, dass sie etwas für sich gewinnen – für ihre Gesundheit, ihre Arbeit, ihre Beziehunge­n – wenn sie es schaffen, sich abzugrenze­n. Kein leichtes Training, bei dem vielleicht der großartige Satz von Eleanor Roosevelt hilft: „Tu jeden Tag etwas, wovor du eigentlich Angst hast.“Die Mechanisme­n sind gar nicht so schwer. Ulrike Bossmann rät, sich erst einmal Zeit für Entscheidu­ngen zu verschaffe­n: Etwa: „Ich schlafe eine Nacht darüber und sage morgen Bescheid.“Oder: „Ich will das erst in Ruhe mit allem, was ansteht, abgleichen, damit ich nicht vorschnell etwas verspreche, was ich nicht halten kann.“Und: „Ich kann gerade nicht. Ich komme noch einmal auf dich zu.“

Dann gibt es noch das sogenannte INGA-Prinzip, eine sanfte Methode, Anliegen zurückzuwe­isen, bestehend aus den Anfangsbuc­hstaben der folgenden Vorgehensw­eise: Interesse zeigen, Nein sagen, Grund nennen, Alternativ­e aufzeigen. Beispiel: „Ich verstehe, dass ihr den Hund in guten Händen wissen wollt. Leider kann ich am Wochenende nicht auf Bello aufpassen, weil ich mal Zeit für mich brauche. Ich habe von einem Hundesitte­r-Service gehört, der solche Aufgaben übernimmt. Hast du da schon mal nachgefrag­t?“Durch dieses Prinzip reagieren die meisten Menschen, deren Bitte abgelehnt wird, mit Verständni­s. Denn sie fühlen sich ernst genommen. Für die größte Angst der People Pleaser, beim Gegenüber auf Missfallen zu stoßen, gäbe es dann keinen Anlass mehr.

Ein wenig erinnert das daran, wie es Asiaten auf höfliche Art verstehen, Nein zu sagen, ohne das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Japaner beispielsw­eise kennen dafür zig Umschreibu­ngen. Anderersei­ts: Die Deutschen kommunizie­ren viel direkter, sagen, was Sache ist, sparen damit Zeit und verhindern Unsicherhe­iten. Ein Nein ist ein Nein, auch wenn es bisweilen harsch und unhöflich rüberkommt. Vielleicht können People Pleaser daraus für sich die größte Hoffnung schöpfen.

Info Ulrike Bossmann: „People Pleasing: Raus aus der Harmoniefa­lle und weg mit dem schlechten Gewissen“, Beltz-Verlag, 270 Seiten, 20 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany