Vom Ja zum Nein
Sogenannte People Pleaser wollen es am liebsten allen Mitmenschen recht machen. Sich selbst tun sie damit keinen Gefallen. Etwas abzulehnen, kann man jedoch lernen.
Jeder bemerkt es hin und wieder bei seinen Mitmenschen. Oder beobachtet es ab und zu an sich selbst: Nein sagen ist nicht so einfach. Eine Bitte abzuschlagen, kann einem Unbehagen bereiten.
Man möchte ja nett sein, dem Partner, der Familie,
Freunden, Bekannten oder Kollegen gefallen, nicht anecken, niemanden enttäuschen, kein Fass aufmachen. Hilfsbereitschaft ist gut fürs Image.
In Maßen, versteht sich. Denn
Everybody’s Darling ist schnell
Everybody’s Depp.
Doch es gibt Zeitgenossinnen und -genossen, die schaffen es nicht, sich von anderen ausreichend abzugrenzen. Denen der Gedanke
Stress verursacht,
Erwartungen aus ihrem Umfeld nicht zu erfüllen oder die
Scham empfinden, eigene Bedürfnisse zu äußern. Und die dadurch unter noch größeren Druck geraten. „Könntest du am
Wochenende beim Umzug helfen?“Ja (aber eigentlich fehlt die Zeit). „Könntest du noch einmal bei uns babysitten?“Natürlich
(aber eigentlich geht es am nächsten Morgen wieder früh zur Arbeit). Der Nachbar könnte allmählich mal seine
Schulden zurückzahlen! (Aber wäre es nicht dreist, ihn daran zu erinnern?)
Der Wunsch nach Anerkennung, ausgeprägtes Harmoniestreben, die Angst vor Ablehnung oder die Scham, als Versager dazustehen, lassen die persönlichen Belange Einzelner oft komplett ins Hintertreffen geraten. So nett, und doch in Wahrheit extrem einsam – neu ist dieses Phänomen keineswegs. Höchstens der Begriff dafür: People Pleasing – der Drang, es allen immer recht machen zu wollen.
Menschen sind soziale Wesen und deshalb auf die Bindung zu anderen angewiesen. Teil einer Gruppe zu sein, ist für die Identitätsfindung von entscheidender Bedeutung. Die Mitgliedschaft setzt die Bereitschaft voraus, sich bestimmten Regeln zu unterwerfen. Zugleich geht es darum, die Kontrolle über das Erreichen eigener Ziele zu erwerben. In den streng hierarchisch gegliederten Gesellschaften, die das Zusammenleben bis weit ins 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa prägten, fielen People Pleaser nicht sonderlich auf. Gehorsam, Unterordnung, das Zurückstellen eigener Befindlichkeiten wurden vorausgesetzt. Erst in jüngerer Zeit wächst die Aufmerksamkeit für ein solches Verhalten und seine teils dramatischen Folgen.
Obwohl es sich nicht um eine psychische Krankheit handelt, für die es entsprechend auch keine eigenständige Diagnose gibt, beschäftigen People Pleaser zunehmend Psychologen und Krankenkassen. Solche Menschen sind extrem empathisch. Das macht sie umso verwundbarer. Wenn jemand lacht, fühlen sie sich verspottet, wenn jemand wütend ist, fühlen sie sich schuldig. Schwenkt jemand die halbleere Kaffeekanne, stürzen sie los und kochen neuen. Sie entschuldigen sich, wenn sie angerempelt werden. Man kann sich ausmalen, was People Pleaser auszuhalten haben, die in Partnerschaft mit einem Narzissten oder einer Narzisstin leben.
Dass diese Wesensart Überforderung nach sich ziehen, Entfremdung von der eigenen Persönlichkeit bewirken, schlimmstenfalls zu Depressionen führen kann, mag niemanden überraschen. Die Betroffenen explodieren nicht – sie implodieren. Darauf
macht auch das jetzt erschienene Buch von Ulrike Bossmann aufmerksam: „People Pleasing: Raus aus der Harmoniefalle und weg mit dem schlechten Gewissen“.
Kein Mensch kommt als People Pleaser auf die Welt. Die Ursache, so zu werden, liegt in den meisten Fällen in der Kindheit, wenn Heranwachsende zu wenig Ermutigung erfahren, klein gemacht, gedemütigt oder von zerstrittenen Elternteilen instrumentalisiert werden. Das führt zu überangepassten Persönlichkeiten, die allenfalls durch vorauseilenden Gehorsam auffallen wollen. Wobei Mädchen stärker als Jungen betroffen sind, weil ihre Erziehung oft auch noch vom alten Rollenbild des weiblichen Unterordnens und Kümmerns geprägt ist.
People Pleaser verwenden jede Menge Zeit und Energie darauf, nicht zu missfallen. Der Leidensdruck ist erheblich, aktiviert das Gefühl von Ausgrenzung, selbst wenn sie bloß subjektiv wahrgenommen wird, im Gehirn klinischen Studien zufolge doch dieselben Regionen wie körperliche Schmerzen. „Doch was passiert, wenn Menschen eigene Interessen zurückstellen, weil sie fürchten, sie könnten anderen nicht in den Kram passen?“, fragt Diplom-Psychologin Ulrike Bossmann, um sogleich die drastische Antwort nachzuschieben: „Sie verschwinden.“
Sie verschwinden wie die Klientin aus Bossmanns Praxis, die ihre Neugier auf die Welt, auf exotische Länder, verrückte Unternehmungen oder neue Restaurants nie auslebte, weil ihr Partner es „zu Hause immer am schönsten“fand. Oder wie die Menschen, die in langweiligen Jobs versauerten, weil sie Kollegen nicht hängen lassen wollten. Wie die Frau, die ihrem Ehemann zuliebe auf Kinder verzichtete, der sie dann im Alter von 54 Jahren verließ, um mit einer neuen Partnerin eine Familie zu gründen.
Weil es schmerzhaft, ermüdend und frustrierend ist, ein People Pleaser zu sein, gibt es nur die eine Alternative: sich selbst wiederzufinden, Verantwortungen für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen, die eigenen Grenzen zu wahren. Das ist leichter gesagt als getan, und zunächst gilt es, erst einmal den Wert eines solchen Stressmanagements für die Lebensqualität
zu begreifen. Dass in jedem Nein, das man seinem Umfeld signalisiert, ein Ja für die eigenen Belange steckt. People-Pleaser müssen lernen, dass sie etwas für sich gewinnen – für ihre Gesundheit, ihre Arbeit, ihre Beziehungen – wenn sie es schaffen, sich abzugrenzen. Kein leichtes Training, bei dem vielleicht der großartige Satz von Eleanor Roosevelt hilft: „Tu jeden Tag etwas, wovor du eigentlich Angst hast.“Die Mechanismen sind gar nicht so schwer. Ulrike Bossmann rät, sich erst einmal Zeit für Entscheidungen zu verschaffen: Etwa: „Ich schlafe eine Nacht darüber und sage morgen Bescheid.“Oder: „Ich will das erst in Ruhe mit allem, was ansteht, abgleichen, damit ich nicht vorschnell etwas verspreche, was ich nicht halten kann.“Und: „Ich kann gerade nicht. Ich komme noch einmal auf dich zu.“
Dann gibt es noch das sogenannte INGA-Prinzip, eine sanfte Methode, Anliegen zurückzuweisen, bestehend aus den Anfangsbuchstaben der folgenden Vorgehensweise: Interesse zeigen, Nein sagen, Grund nennen, Alternative aufzeigen. Beispiel: „Ich verstehe, dass ihr den Hund in guten Händen wissen wollt. Leider kann ich am Wochenende nicht auf Bello aufpassen, weil ich mal Zeit für mich brauche. Ich habe von einem Hundesitter-Service gehört, der solche Aufgaben übernimmt. Hast du da schon mal nachgefragt?“Durch dieses Prinzip reagieren die meisten Menschen, deren Bitte abgelehnt wird, mit Verständnis. Denn sie fühlen sich ernst genommen. Für die größte Angst der People Pleaser, beim Gegenüber auf Missfallen zu stoßen, gäbe es dann keinen Anlass mehr.
Ein wenig erinnert das daran, wie es Asiaten auf höfliche Art verstehen, Nein zu sagen, ohne das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Japaner beispielsweise kennen dafür zig Umschreibungen. Andererseits: Die Deutschen kommunizieren viel direkter, sagen, was Sache ist, sparen damit Zeit und verhindern Unsicherheiten. Ein Nein ist ein Nein, auch wenn es bisweilen harsch und unhöflich rüberkommt. Vielleicht können People Pleaser daraus für sich die größte Hoffnung schöpfen.
Info Ulrike Bossmann: „People Pleasing: Raus aus der Harmoniefalle und weg mit dem schlechten Gewissen“, Beltz-Verlag, 270 Seiten, 20 Euro