Die EU setzt sich ein neues Klimaziel
Der CO2-Ausstoß soll bis 2040 um 90 Prozent gesenkt werden. Wie die Landwirtschaft in die Pflicht genommen wird, darüber streiten die Abgeordneten jedoch. Am Dienstag gab es vielerorts wieder Bauernproteste.
EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra nimmt Anleihen an die ersten Worte eines Menschen auf dem Mond, als er am Dienstagnachmittag die Zahl enthüllt, auf die Politik und Wirtschaft seit Wochen warten: 90. Die Europäische Union soll bis zum Jahr 2040 den Ausstoß des klimaschädlichen Treibhausgases um 90 Prozent gegenüber den Werten von 1990 verringern, damit das Ziel eines klimaneutralen Europas bis 2050 realistisch bleibt. Das sei ein „Riesenschritt“, den die EU an diesem Dienstag Anfang Februar 2024 unternehme, lautet die Einschätzung des Niederländers. Doch Nasa-Astronaut Neil Armstrong landete unmittelbar nach der Ankündigung des „großen Schrittes für die Menschheit“bereits im Ziel. Hoekstras Schritt bleibt dagegen vorerst in der Luft hängen. Denn nichts ist beschlossen, die EU-Kommission hat nur einen „Dialog eröffnet“. Die Details will sie ihrer Nachfolgerin nach den Europawahlen am 9. Juni überlassen.
Damit liegt jedenfalls eines der wichtigsten Themen für den Europawahlkampf auf dem Tisch. Sofort
gehen die Akteure in die Startlöcher. Für die Rechtspopulisten spricht die AfD-Europaabgeordnete Sylvia Limmer vom „Klimawahnsinn“, der die Energie so teuer mache, dass in Deutschland längst eine Deindustrialisierung eingesetzt habe. 90 Prozent, das sei der „größte anzunehmende Wirtschaftsunfall“. Für die Grünen ist es genau andersherum. 90 Prozent seien als Ziel „zaghaft“, kritisiert der Grünen-Klimaexperte Michael Bloss – und verweist darauf, dass „selbst Söder und Aiwanger Bayern bis 2040 klimaneutral machen“wollten. Die Sachverständigen hätten 90 bis 95 vorgeschlagen. Und die Grünen wollen nun 100 Prozent.
Bloss knüpft sich auch gleich den Vorschlag der Kommission vor, mehr auf die CCS-Technik zu setzen, also das Verfahren, CO2 aus Atmosphäre und Verbrennungsprozessen herauszuziehen und verdichtet zu lagern. Das sei noch nicht entwickelt und viel zu teuer. Besser sei es, auf das zu setzen, was funktioniere: „günstige Energie aus Sonne und Wind“. Dagegen begrüßt der Bundesverband der Deutschen Industrie genau diesen CCS-Anteil und hebt hervor, dass ohne das
90-Prozent-Ziel bis 2040 nichts erreichbar wäre. „Angesichts weltweit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Ambitionsniveaus beim Klimaschutz darf das hochambitionierte europäische Klimaschutzziel nicht zulasten der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gehen,“mahnt der BDI.
Aber es gibt auch Übereinstimmendes. Da sind die Verhandlungen über das Netto-Null-Gesetz, die parallel am Dienstagnachmittag in einem anderen Saal in Straßburg laufen und bei denen die Vorgaben für die Industrie im Detail geregelt werden, wie ihre CO2-Bilanz bis 2050 bei null landen kann. Da sind aber auch die Forderungen von allen Seiten, die Menschen besser zu unterstützen, die sich mit ihren geringen Einkommen das Leben in klimaneutralen Wohnungen oder besser isolierten Häusern nicht leisten können. „Die Kommission muss den Mitgliedstaaten hier auf die Finger klopfen“, verlangt Liese.
Bei einer Zielgruppe sind sich die EU-Verantwortlichen jedoch überhaupt nicht einig: Wie wird die Landwirtschaft für die Klimaziele in die Pflicht genommen? Nach brennenden Barrikaden in der Vorwoche in Brüssel sind am Dienstag auch in Straßburg protestierende Landwirte aufmarschiert. Obwohl ihre Parolen drinnen nicht zu hören sind, werden sie in vielen Reden zitiert. Die Christdemokraten mahnen, sie als „Partner“zu sehen, die Grünen halten die Landwirte von Interessenvertretern für fehlgeleitet und mehrere Abgeordnete sagen voraus, dass sich die Bauern und viele andere die EU-Politik nicht mehr gefallen lassen und bei den Europawahlen einen Denkzettel erteilen würden.
Während dem politischen Rand das 90-Ziel viel zu weit geht und den Grünen nicht ausreicht, glauben die Sozialdemokraten, dass bei einem Festhalten am eingeschlagenen Tempo das Ziel von selbst erreicht werde. Pragmatischer gehen auch die Christdemokraten mit den Ambitionen um und verlangen mehr internationale Zusammenarbeit. Diese wäre, etwa über einen ausgeweiteten Zertifikatehandel, unterm Strich deutlich preiswerter und effektiver fürs Klima. Liese begrüßt, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an dieser Stelle mit einer Taskforce nachsteuern wolle. Es seien viel mehr andere Staaten an einer Klima-Kooperation mit der EU interessiert als die Kommission derzeit an Kontaktmöglichkeiten bieten könne.
Das bisherige Ziel für das Jahr 2030, den Ausstoß um 55 Prozent zu reduzieren, hat die Europapolitik vier Jahre intensiv beschäftigt – mit einem griffigen Slogan: Europa müsse „fit für Fünfundfünfzig“gemacht werden. Dagegen ist für 2040 und das neue Neunzig noch nichts notiert. Hoekstra schließt jedenfalls die Debatte am frühen Abend mit einem Appell: „Verlassen Sie Ihre ideologischen Schützengräben.“