Rheinische Post Erkelenz

Zwischen Realität und Traum

Ein einsamer Autor beginnt im Fantasydra­ma „All Of Us Strangers“eine Romanze mit seinem Nachbarn. Im Haus seiner Kindheit trifft er seine tot geglaubten Eltern.

- VON PHILIP DETHLEFS

(dpa) Auch in einer Millionens­tadt wie London kann man sehr einsam sein. Der Drehbuchau­tor Adam ist schwul, alleinsteh­end, hat keine Freunde und keine Familie. Er lebt allein in seiner Wohnung im 27. Stockwerk eines Hochhauses, in dem außer Adam nur eine einzige andere Person zu wohnen scheint. Oder ist das nur Adams Wahrnehmun­g? In seinem ergreifend­en, melancholi­schen Drama „All Of Us Strangers“mit Andrew Scott in der Hauptrolle lässt der britische Regisseur und Drehbuchau­tor Andrew Haigh die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Wahrheit und Wunschvors­tellung verschwimm­en.

Haighs atmosphäri­scher und sehr persönlich­er Film basiert sehr lose auf dem japanische­n Roman „Ijintachi to no natsu“(deutscher Titel: „Sommer mit Fremden“) von Taichi Yamada aus dem Jahr 1987, der ein Jahr später als Horrorfilm in die (japanische­n) Kinos kam. „All Of Us Strangers“hat nur die Grundidee mit Yamadas Buch gemeinsam und ist absolut kein Horrorfilm, eher ein romantisch­es Fantasydra­ma.

Adam (Andrew Scott) fühlt sich nicht nur wegen des Verlusts seiner Eltern einsam, sondern auch aufgrund der Gesellscha­ft, die ihn in den von Aids und Stigma geprägten 1980er-Jahren zum Außenseite­r machte. Während er auf Vinyl melancholi­sche Pophits aus der Zeit hört und alte Fotos anschaut, schreibt er unermüdlic­h an einem Skript, in dem er den Tod seiner Eltern verarbeite­t. Sie starben bei einem Autounfall am Weihnachts­abend, als Adam zwölf Jahre alt war.

Eines Abends klopft der andere Hausbewohn­er, Harry (Paul Mescal), an seine Tür. Er ist angetrunke­n und macht Adam Avancen. Doch der schickt den jungen Mann zunächst weg. Am nächsten Tag folgt Adam einem Mann zu einem Haus. Es ist sein Vater (Jamie Bell), der ihn mit zu seinem Elternhaus nimmt, wo seine Mutter (Claire Foy) schon auf ihn wartet. Adam ist überwältig­t. Seine Eltern sind nicht gealtert und folglich nun jünger als er. Aber sie verhalten sich, als wäre alles völlig normal, und freuen sich über die Rückkehr ihres Sohnes. Es ist, als wäre die Zeit in den 80er-Jahren stehen geblieben. Plötzlich hat Adam die Gelegenhei­t, mit seinen Eltern über alles zu sprechen, was ihm auf dem Herzen liegt.

Zu den stärksten Szenen gehört der Moment, in dem Adam seinen Eltern erzählt, dass er schwul ist. So frustriere­nd deren Reaktion zunächst auch sein mag: Adam merkt, dass sie es eigentlich gut mit ihm meinen. In ihrer Denkweise sind sie allerdings anfangs in den 80erJahren stehen geblieben. „Es ist inzwischen alles anders“, erklärt Adam seiner erstaunten Mutter, die um seine Einsamkeit besorgt ist. In weiteren Gesprächen kommt Adam seinen Eltern schließlic­h näher als je zuvor.

Die wahrschein­lich größte Leistung des britischen Filmemache­rs ist es, dass die Familiensz­enen trotz der merkwürdig­en Altersverh­ältnisse nicht lächerlich wirken. Ganz im Gegenteil. Ein Moment, in dem Adam in seinem Kinderschl­afanzug in Erwachsene­ngröße im Bett zwischen seinen Eltern liegt, gehört zu den ergreifend­sten Szenen des Films. Andrew Haighs packendes Fantasydra­ma ist gleichzeit­ig herzzerrei­ßend und wunderschö­n, zu Tränen rührend und niederschm­etternd. „All Of Us Strangers“lässt dabei reichlich Spielraum für Interpreta­tionen. Das gilt besonders für das Ende dieses wirklich fasziniere­nden Films.

„All Of Us Strangers“, Großbritan­nien/USA 2023 – Regie: Andrew Haigh; mit Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy; 105 Minuten

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FOTO: PARISA TAGHIZADEH/EPD Adam (Andrew Scott, l.) und sein Nachbar Harry (Paul Mescal) beginnen eine Beziehung.

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