Zwischen Realität und Traum
Ein einsamer Autor beginnt im Fantasydrama „All Of Us Strangers“eine Romanze mit seinem Nachbarn. Im Haus seiner Kindheit trifft er seine tot geglaubten Eltern.
(dpa) Auch in einer Millionenstadt wie London kann man sehr einsam sein. Der Drehbuchautor Adam ist schwul, alleinstehend, hat keine Freunde und keine Familie. Er lebt allein in seiner Wohnung im 27. Stockwerk eines Hochhauses, in dem außer Adam nur eine einzige andere Person zu wohnen scheint. Oder ist das nur Adams Wahrnehmung? In seinem ergreifenden, melancholischen Drama „All Of Us Strangers“mit Andrew Scott in der Hauptrolle lässt der britische Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Wahrheit und Wunschvorstellung verschwimmen.
Haighs atmosphärischer und sehr persönlicher Film basiert sehr lose auf dem japanischen Roman „Ijintachi to no natsu“(deutscher Titel: „Sommer mit Fremden“) von Taichi Yamada aus dem Jahr 1987, der ein Jahr später als Horrorfilm in die (japanischen) Kinos kam. „All Of Us Strangers“hat nur die Grundidee mit Yamadas Buch gemeinsam und ist absolut kein Horrorfilm, eher ein romantisches Fantasydrama.
Adam (Andrew Scott) fühlt sich nicht nur wegen des Verlusts seiner Eltern einsam, sondern auch aufgrund der Gesellschaft, die ihn in den von Aids und Stigma geprägten 1980er-Jahren zum Außenseiter machte. Während er auf Vinyl melancholische Pophits aus der Zeit hört und alte Fotos anschaut, schreibt er unermüdlich an einem Skript, in dem er den Tod seiner Eltern verarbeitet. Sie starben bei einem Autounfall am Weihnachtsabend, als Adam zwölf Jahre alt war.
Eines Abends klopft der andere Hausbewohner, Harry (Paul Mescal), an seine Tür. Er ist angetrunken und macht Adam Avancen. Doch der schickt den jungen Mann zunächst weg. Am nächsten Tag folgt Adam einem Mann zu einem Haus. Es ist sein Vater (Jamie Bell), der ihn mit zu seinem Elternhaus nimmt, wo seine Mutter (Claire Foy) schon auf ihn wartet. Adam ist überwältigt. Seine Eltern sind nicht gealtert und folglich nun jünger als er. Aber sie verhalten sich, als wäre alles völlig normal, und freuen sich über die Rückkehr ihres Sohnes. Es ist, als wäre die Zeit in den 80er-Jahren stehen geblieben. Plötzlich hat Adam die Gelegenheit, mit seinen Eltern über alles zu sprechen, was ihm auf dem Herzen liegt.
Zu den stärksten Szenen gehört der Moment, in dem Adam seinen Eltern erzählt, dass er schwul ist. So frustrierend deren Reaktion zunächst auch sein mag: Adam merkt, dass sie es eigentlich gut mit ihm meinen. In ihrer Denkweise sind sie allerdings anfangs in den 80erJahren stehen geblieben. „Es ist inzwischen alles anders“, erklärt Adam seiner erstaunten Mutter, die um seine Einsamkeit besorgt ist. In weiteren Gesprächen kommt Adam seinen Eltern schließlich näher als je zuvor.
Die wahrscheinlich größte Leistung des britischen Filmemachers ist es, dass die Familienszenen trotz der merkwürdigen Altersverhältnisse nicht lächerlich wirken. Ganz im Gegenteil. Ein Moment, in dem Adam in seinem Kinderschlafanzug in Erwachsenengröße im Bett zwischen seinen Eltern liegt, gehört zu den ergreifendsten Szenen des Films. Andrew Haighs packendes Fantasydrama ist gleichzeitig herzzerreißend und wunderschön, zu Tränen rührend und niederschmetternd. „All Of Us Strangers“lässt dabei reichlich Spielraum für Interpretationen. Das gilt besonders für das Ende dieses wirklich faszinierenden Films.
„All Of Us Strangers“, Großbritannien/USA 2023 – Regie: Andrew Haigh; mit Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy; 105 Minuten