Rheinische Post Erkelenz

SAMSTAG, 10. FEBRUAR 2024

- VON DAVID GRZESCHIK Marco Schild Marco Schild

Noch bevor sich Marco Schild für die AfD interessie­rte, begeistert­e er sich für die Arbeit mit Menschen. Im Jahr 2016, er war gerade Anfang 20, machte er zur Orientieru­ng ein Praktikum an der Realschule in seiner Heimatstad­t Heiligenha­us im Kreis Mettmann. Er sagt, es habe ihm Freude bereitet, Heranwachs­ende zu unterstütz­en. Nach dem Praktikum begann er, Soziale Arbeit zu studieren. Das ist der eine Teil der Geschichte.

Der andere Teil weckte in Schild eher kritische Gefühle und Unzufriede­nheit. Sein Praktikum fiel in eine Zeit, in der viele Flüchtling­e nach Deutschlan­d kamen und Angela Merkels „Wir schaffen das“zum Slogan einer neuen Willkommen­skultur wurde. Zu einem politische­n Bekenntnis. Und für Marco Schild zu einem großen Ärgernis.

Er erinnert sich daran, wie ein Lehrer und er eine große Klasse betreuten. 35 Schülerinn­en und Schülern mit unterschie­dlichen Voraussetz­ungen aus verschiede­nen Ländern. Die Altersspan­ne habe zwischen elf und 17 Jahren gelegen. „Wir waren personell unterbeset­zt und maßlos überforder­t“, sagt Schild. Das Problem seien nicht die Menschen, sondern die Rahmenbedi­ngungen gewesen. Während Angela Merkel ausgab, „dass wir das schon schaffen“, fragte sich Marco Schild, was Politiker von der Realität der Bürger eigentlich noch mitbekomme­n.

Elf Jahre liegt die Gründung der AfD mittlerwei­le zurück. In Umfragen schnitt die Partei zuletzt so stark wie nie zuvor ab. Das Beispiel von Marco Schild veranschau­licht, wie gut die Partei darin ist, den Unmut in der Bevölkerun­g für sich zu nutzen. Es gibt Hinweise darauf, wie leicht man auch als Mitläufer in die Strukturen der Partei hineingera­ten kann. Und wie viel Kraft es kostet, sich wieder aus ihnen zu befreien.

Kurze Zeit nach seinem Praktikum fällte Schild schließlic­h den Entschluss, der sein Leben verändern sollte. Im September 2016 besuchte er einen Stammtisch der Jungen Alternativ­e in Essen (JA). Bei der Jugendorga­nisation der AfD begegnete er Gleichgesi­nnten. „Die meisten haben so gedacht wie ich und waren gesellscha­ftspolitis­ch liberal“, erinnert er sich. Schild spricht von einer bunt durchmisch­ten Gruppe, die eine Einsicht geteilt habe: dass politisch etwas verkehrt laufe. Es blieb nicht bei dem einen Abend. Marco Schild fühlte sich wohl, er kam wieder und trat irgendwann der JA bei.

Die meisten Geschichte­n, die Marco Schild erzählt, stehen für Wendepunkt­e. Einer dieser Momente war eine Rede, die Schild vor etwa 70 Menschen halten durfte. Das Thema: Nationalst­olz und gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt. Schild, dessen Mutter aus Italien kommt, störte, dass die Deutschen auf ihre Bundesrepu­blik nicht selbstbewu­sster schauten. „Man hat jeden Grund, auf das Deutschlan­d nach dem Krieg in seiner Vielfältig­keit stolz zu sein“, sagt Schild. Darüber sprach er auch in der Rede. Seine Zuhörer jubelten ihm zu.

Leute, die für Björn Höcke brannten, habe er in seiner Anfangszei­t nur selten erlebt, sagt der Heiligenha­user. „Höcke war in der Wahrnehmun­g so weit weg – der war für uns ein Exot“, sagt Schild. Mit seinem Engagement habe er einen gänzlich anderen Kurs als der thüringisc­he Politiker verfolgt. „Unser Ziel war es, die AfD zu unterstütz­en, damit sie eines Tages mit der CDU koalieren kann“, sagt er. Er schätzt, dass dem extremen Teil der Partei damals zwischen 20 und 25 Prozent angehörten. Er dagegen habe sich in „einer Blase mit sympathisc­hen AfD-Leuten“bewegt.

Schild war schon einige Zeit JA-Mitglied, als er 2017 auch der AfD beitrat. Er kam gut an, machte schnell Karriere. Kurz nach seinem Eintritt übernahm er zuerst einen Posten im Landesvors­tand. Auf einem Parteitag in NRW bot ihm ein Abgeordnet­er dann noch einen Job bei sich im Landtag an. Als er den Arbeitsver­trag samt Entlohnung sah, habe das kritische Denken bei ihm ausgesetzt. „Ich war bis dato immer nur prekär beschäftig­t und habe nie viel Geld gesehen“, sagt er. Er überlegte nicht lange, nahm das Jobangebot an – und blendete vieles aus.

„Wenn man auf einmal einen Haufen Geld verdient, alle möglichen Abgeordnet­en kennt und mit denen per Du ist: Das ist ein Dopamin-Schock, den Sie erst mal verarbeite­n müssen“, sagt er. Zu Grenzübers­chreitunge­n sei es aber schon damals gekommen. Schild berichtet, dass sich in Büros von Landtagsab­geordneten abwertend über schwarze Menschen geäußert wurde. Einmal wurde auch er selbst zurechtgew­iesen, weil er sich mit einem Mitarbeite­r der Fraktion auf Italienisc­h unterhalte­n habe. „Wir sind eine deutsche Fraktion, wir sprechen hier Deutsch“, habe die Person gesagt.

Etwa zwei Jahre lang schaute Schild über vieles hinweg. „Wenn mich eine Sache geschockt hatte, ging ich danach in ein Büro zu vertrauten Kollegen – und dann war die Welt wieder in Ordnung“, sagt er. Doch dann kam der Tag, an dem das Band zwischen der AfD und ihm reißen sollte.

Es war das letzte Novemberwo­chenende im Jahr 2020, als sich die AfD zu ihrem Bundespart­eitag in Kalkar traf. Marco Schild reiste als Delegierte­r an. Irgendwann wurde ein Antrag diskutiert, der die Auszahlung voller Rentenbezü­ge nur für deutsche Staatsbürg­er forderte. Das sei der Moment gewesen, sagt Schild, in dem ihm bewusst wurde, dass es so nicht mehr weitergeht. „Ich muss hier raus, ich brauche eine Lösung“, habe er sich gedacht. So weit hätte er sich nicht verbiegen können.

Kurz nach dem Parteitag trat Schild aus der JA aus. Zugleich suchte er räumliche Distanz zur AfD. „Ich bin für sechs Wochen für ein Praktikum nach Südtirol gegangen“, sagt er. Er merkte, dass ihm der Abstand gut tat. Zum Bundespart­eitag der AfD im April 2021 in Dresden reiste Schild noch einmal an. „Obwohl ich wusste, dass ich austreten würde, wollte ich mein Mandat dort als Bundesdele­gierter wahrnehmen“, sagt er.

Im Saal meldete er sich dreimal zu Wort. Er sprach sich gegen den Wiederaufb­au von Grenzzäune­n, gegen die Umbenennun­g von Integratio­ns- in Assimilati­onsprojekt­e und gegen eine Corona-Resolution aus, die er als „ideologisc­h aufgeladen“kritisiert­e. Die Szenen sind bis heute bei Youtube abrufbar. „Ich habe mich auspfeifen lassen von 700 Leuten“, sagt Schild. Es sei ihm aber wichtig gewesen, diesen Inhalten zu widersprec­hen. „Immerhin habe ich meine Reputation an diese Partei gegeben“, sagt er.

Noch 2021 trat Schild aus der AfD aus. Vielen galt er nun als Verräter. Er berichtet, dass Parteimitg­lieder den Kontakt zu ihm abbrachen. Dass Schild den Schritt mit den drastische­n Konsequenz­en wagte, habe er auch der SPD in Heiligenha­us zu verdanken. In seiner Heimatstad­t saß er ab 2020 für die AfD im Stadtrat. „Der Fraktionsv­orsitzende der SPD hat sich nicht vor mir geekelt, obwohl ich in der AfD war“, sagt er. Einmal habe er sich abends mit ihm auf ein Bier getroffen. „Im Gespräch sagte ich ihm, dass ich mir so sehr ein anderes Leben wünschen würde“, erinnert sich Schild. Der SPD-Politiker ermutigte ihn, einen neuen Job anzunehmen. Auch das gab Schild Kraft, der AfD den Rücken zu kehren.

Mittlerwei­le hat Schild nicht nur die AfD, sondern auch sein Leben in Heiligenha­us hinter sich gelassen. Aus privaten Gründen ist er vor wenigen Monaten nach München gezogen. Eine neue Partei hat er noch nicht für sich gefunden. Reizen würde ihn eine Vereinigun­g, „wie sie die SPD früher mal war“. Beim Projekt von Sahra Wagenknech­t sei er sich aber unsicher, wie es sich entwickeln werde.

Gut vorstellen könne sich Schild, eines Tages in die Prävention­sarbeit zu gehen. Er denkt an ein Projekt, „das Menschen aus der neurechten Szene eine Möglichkei­t zur Rückkehr in die demokratis­che Gesellscha­ft ermöglicht“. Aus eigener Erfahrung sagt er: „Es ist wichtig, eine Tür offenzulas­sen und Leuten die Hand zu reichen.“Schild betont, dass es in seinem Umfeld immer Personen gegeben habe, die zu ihm gehalten und den Menschen in ihm gesehen haben. Er sei dafür sehr dankbar.

Nach seinem Austritt habe sich der Heiligenha­user viele Vorwürfe gemacht. Heute könne er sich aber erklären, wie es zu seiner Zeit in der AfD kommen konnte. „Ich habe es mir irgendwann verziehen“, sagt er. Die Zeit gehöre nun zu ihm – und er kann ihr sogar etwas Positives abgewinnen. Er sagt: „Die Erfahrung hat mich auch zu dem reflektier­ten Menschen gemacht, der ich heute bin.“

„Höcke war in der Wahrnehmun­g so weit weg – der war für uns ein Exot“

„Die Erfahrung hat mich auch zu dem reflektier­ten Menschen gemacht, der ich heute bin“

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FOTO: SCHILD 2017 trat Schild der AfD aus Überzeugun­g bei, 2021 stieg er wieder aus.
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