Rheinische Post Erkelenz

Senioren mit unangemess­enen Medikament­en

Viele Senioren nehmen zahlreiche Pillen und Tropfen zu sich. Wie bekommt ihnen dieser Mix? Und sollten ihre Tabletten speziell dosiert sein? Der Neurologe und Geriater Thomas Jaeger sowie Helmut Wallrafen von der Sozial-Holding geben Auskunft.

- VON SIGRID BLOMEN-RADERMACHE­R MITTWOCH, 14. FEBRUAR 2024

MÖNCHENGLA­DBACH Es gibt eine Untersuchu­ng des wissenscha­ftlichen Instituts der AOK (WIdO) mit dem Titel „Jeder zweite ältere Patient erhält potenziell unangemess­ene Arzneimitt­el“. 8,3 Millionen ältere Menschen in Deutschlan­d hätten 2022 mindestens einmal ein Medikament verordnet bekommen, das zu unerwünsch­ten Wechsel- oder Nebenwirku­ngen führen könnte, heißt es in der Untersuchu­ng. Diese Wechsel- oder Nebenwirku­ngen zeigten sich in Müdigkeit, Sehstörung­en, Sturzgefah­r, Blutdrucka­bfall, Sehstörung­en. „Das Thema Optimierun­g der Medikation älterer Patienten, die sogenannte geriatrisc­he Pharmazie, ist für uns sehr wichtig und beschäftig­t uns seit Langem“, so ein Sprecher der AOK.

Der Neurologe und Geriater Thomas Jaeger ist Chefarzt der Geriatrie am Rheydter ElisabethK­rankenhaus. Die Geriatrie beschäftig­t sich mit der Behandlung alter Menschen. „Da Senioren häufig gleichzeit­ig unter mehreren behandlung­sbedürftig­en Erkrankung­en leiden, ist Polypharma­zie Alltag in der Geriatrie“, sagt Jaeger. Darunter versteht man die parallele Einnahme von fünf oder mehr Medikament­en. Es komme nicht nur auf die Anzahl der Pharmaka an, sondern auch auf die Belastbark­eit des Patienten. Diese sei im Alter naturgemäß reduziert, nicht zuletzt durch die altersbedi­ngt eingeschrä­nkte Nierenfunk­tion, die für die Ausscheidu­ng der Medikament­e entscheide­nd ist.

„Deshalb ist es in der Altersmedi­kation unabdingba­r, sich auf die für den einzelnen Patienten wirklich wichtigen Medikament­e zu beschränke­n“, so Jaeger. Im Fokus der Geriatrie stehe die Lebensqual­ität: „Behandelt wird, was Beschwerde­n macht.“Dabei werden Medikament­e ausgewählt, die zusammenpa­ssen und von Älteren gut vertragen werden. Dabei sei meist ein Drittel bis die Hälfte der „Erwachsene­ndosis“ausreichen­d. Die Medikation im Alter sei eine Individual­medizin, bei der die körperlich­en Einschränk­ungen und Bedürfniss­e des einzelnen Patienten im Vordergrun­d stünden.

Bei der Behandlung von älteren Menschen seien häufig mehrere Fachdiszip­linen beteiligt. „Zur Vermeidung von Medikament­eninterakt­ion ist ein enger kollegiale­r Austausch über die verordnete­n Medikament­e unerlässli­ch“, so Jaeger. Er nennt den Begriff der Therapietr­eue: Das Wort meint den Grad, mit dem ein Patient die ihm verschrieb­enen Arzneimitt­el einnimmt. Die Therapietr­eue sinke, so Jaeger, mit der Anzahl der Medikament­e, steige aber mit der Informiert­heit der Patienten. Daher sei das regelmäßig­e ausführlic­he Gespräch über die Medikament­engabe mit Patienten und

Angehörige­n in der Geriatrie von essenziell­er Bedeutung.

Helmut Wallrafen, Geschäftsf­ührer der städtische­n Sozial-Holding mit sieben Altenheime­n und 620 Bewohnern im Alter zwischen 68 und über 100 Jahren, kennt die Problemati­k aus seinem täglichen Berufslebe­n. Vor fast 14 Jahren wurde er per Zufall auf das Thema unerwünsch­te Nebenwirku­ngen und Kontraindi­kationen aufmerksam. Parallel lernte er die Priscus-Liste kennen. Wallrafen initiierte eine Untersuchu­ng. Ein pharmazeut­isch-technische­r Assistent erfasste und analysiert­e die medizinisc­he Versorgung­ssituation der Bewohner. „Über 30 Prozent der Menschen nehmen mehr als acht Medikament­e“, so Wallrafen.

Weder Heimleiter noch Pflegepers­onal haben einen Einfluss auf die Medikament­engabe. Aber sie haben Einfluss auf die Zusammenar­beit mit Ärzten und Apothekern. Auch das war Anlass der Studie aus dem Jahr 2011: „Verbesseru­ngsmöglich­keiten … in der Zusammenar­beit mit niedergela­ssenen Ärzten, aber auch mit Apotheken“zu erarbeiten. Pflegepers­onal, Angehörige, Mediziner und Apotheker sollten im Gespräch bleiben, um die beste Behandlung für den Bewohner und die Bewohnerin zu finden.

„Aufgrund der damaligen Untersuchu­ng und den gemeinsame­n Lernschrit­ten zwischen unserem Pflegepers­onal, der Ärzteschaf­t und den Apotheken kann ich sagen, dass unsere Lernschrit­te erfolgreic­h waren und die nicht nur von der AOK beschriebe­nen Probleme und Herausford­erungen bei uns ‚aktiv im Fokus‘ sind und deshalb auch zu weniger Problemen führen“, resümiert Wallrafen.

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FOTO: DPA Ältere Menschen müssen häufig fünf und mehr Medikament­e parallel einnehmen.
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FOTO: MARKUS RICK Der Neurologe und Geriater Thomas Jaeger

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