Senioren mit unangemessenen Medikamenten
Viele Senioren nehmen zahlreiche Pillen und Tropfen zu sich. Wie bekommt ihnen dieser Mix? Und sollten ihre Tabletten speziell dosiert sein? Der Neurologe und Geriater Thomas Jaeger sowie Helmut Wallrafen von der Sozial-Holding geben Auskunft.
MÖNCHENGLADBACH Es gibt eine Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) mit dem Titel „Jeder zweite ältere Patient erhält potenziell unangemessene Arzneimittel“. 8,3 Millionen ältere Menschen in Deutschland hätten 2022 mindestens einmal ein Medikament verordnet bekommen, das zu unerwünschten Wechsel- oder Nebenwirkungen führen könnte, heißt es in der Untersuchung. Diese Wechsel- oder Nebenwirkungen zeigten sich in Müdigkeit, Sehstörungen, Sturzgefahr, Blutdruckabfall, Sehstörungen. „Das Thema Optimierung der Medikation älterer Patienten, die sogenannte geriatrische Pharmazie, ist für uns sehr wichtig und beschäftigt uns seit Langem“, so ein Sprecher der AOK.
Der Neurologe und Geriater Thomas Jaeger ist Chefarzt der Geriatrie am Rheydter ElisabethKrankenhaus. Die Geriatrie beschäftigt sich mit der Behandlung alter Menschen. „Da Senioren häufig gleichzeitig unter mehreren behandlungsbedürftigen Erkrankungen leiden, ist Polypharmazie Alltag in der Geriatrie“, sagt Jaeger. Darunter versteht man die parallele Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten. Es komme nicht nur auf die Anzahl der Pharmaka an, sondern auch auf die Belastbarkeit des Patienten. Diese sei im Alter naturgemäß reduziert, nicht zuletzt durch die altersbedingt eingeschränkte Nierenfunktion, die für die Ausscheidung der Medikamente entscheidend ist.
„Deshalb ist es in der Altersmedikation unabdingbar, sich auf die für den einzelnen Patienten wirklich wichtigen Medikamente zu beschränken“, so Jaeger. Im Fokus der Geriatrie stehe die Lebensqualität: „Behandelt wird, was Beschwerden macht.“Dabei werden Medikamente ausgewählt, die zusammenpassen und von Älteren gut vertragen werden. Dabei sei meist ein Drittel bis die Hälfte der „Erwachsenendosis“ausreichend. Die Medikation im Alter sei eine Individualmedizin, bei der die körperlichen Einschränkungen und Bedürfnisse des einzelnen Patienten im Vordergrund stünden.
Bei der Behandlung von älteren Menschen seien häufig mehrere Fachdisziplinen beteiligt. „Zur Vermeidung von Medikamenteninteraktion ist ein enger kollegialer Austausch über die verordneten Medikamente unerlässlich“, so Jaeger. Er nennt den Begriff der Therapietreue: Das Wort meint den Grad, mit dem ein Patient die ihm verschriebenen Arzneimittel einnimmt. Die Therapietreue sinke, so Jaeger, mit der Anzahl der Medikamente, steige aber mit der Informiertheit der Patienten. Daher sei das regelmäßige ausführliche Gespräch über die Medikamentengabe mit Patienten und
Angehörigen in der Geriatrie von essenzieller Bedeutung.
Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der städtischen Sozial-Holding mit sieben Altenheimen und 620 Bewohnern im Alter zwischen 68 und über 100 Jahren, kennt die Problematik aus seinem täglichen Berufsleben. Vor fast 14 Jahren wurde er per Zufall auf das Thema unerwünschte Nebenwirkungen und Kontraindikationen aufmerksam. Parallel lernte er die Priscus-Liste kennen. Wallrafen initiierte eine Untersuchung. Ein pharmazeutisch-technischer Assistent erfasste und analysierte die medizinische Versorgungssituation der Bewohner. „Über 30 Prozent der Menschen nehmen mehr als acht Medikamente“, so Wallrafen.
Weder Heimleiter noch Pflegepersonal haben einen Einfluss auf die Medikamentengabe. Aber sie haben Einfluss auf die Zusammenarbeit mit Ärzten und Apothekern. Auch das war Anlass der Studie aus dem Jahr 2011: „Verbesserungsmöglichkeiten … in der Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten, aber auch mit Apotheken“zu erarbeiten. Pflegepersonal, Angehörige, Mediziner und Apotheker sollten im Gespräch bleiben, um die beste Behandlung für den Bewohner und die Bewohnerin zu finden.
„Aufgrund der damaligen Untersuchung und den gemeinsamen Lernschritten zwischen unserem Pflegepersonal, der Ärzteschaft und den Apotheken kann ich sagen, dass unsere Lernschritte erfolgreich waren und die nicht nur von der AOK beschriebenen Probleme und Herausforderungen bei uns ‚aktiv im Fokus‘ sind und deshalb auch zu weniger Problemen führen“, resümiert Wallrafen.