Lade, lade, Berlinale
Jeder Tag des Filmfestivals beginnt mit Anstehen im digitalen Ticketshop. Ein virtuelles Männchen sorgt beim Warten für Unterhaltung. Es macht den Moonwalk. Und entpuppt sich als Philosoph des Alltags.
Nun ist wieder Berlinale, und jeder Morgen beginnt mit diesem Ritual: 7.30 Uhr, Schlange stehen vor dem Ticketshop. Das ist kein echtes Kartenhäuschen, sondern eine Internetseite, und um halb acht kann ich dort den Einlass für die Aufführungen des jeweils übernächsten Tages buchen. Viele tun das, sehr viele zur selben Zeit. Im Berlinale-Wettbewerb müssten sie mal eine Dokumentation bringen, die aus dem Nest gefallene Menschen mit verschlafenen Gesichtern beim Versuch zeigt, sich einzuloggen.
Das Wort „Versuch“ist an dieser Stelle wichtig, denn es dauert, bis man „drin“ist, manchmal bis zu 20, 25 Minuten. Dass man nicht wahnsinnig wird oder jähzornig, liegt an der tröstlichen Aufmachung. Zur emotionalen Verkürzung der Wartezeit wächst nicht bloß ein Ladebalken über die Wartesite. Da ist ein Männchen zu sehen, das auf dem Ladebalken balanciert, und der Weg, den es bereits zurückgelegt hat, ist rot, die verbleibende Distanz hingegen dunkelgrau. Natürlich denkt man gleich an einen roten Teppich, und den rollt sich dieser Avatar selbst aus: Da, wo er hintritt, wird die Welt bunt.
Ich mag dieses Männchen. Weil es ein Widerspenst ist. Ein Punk. Je heftiger ich mir seinen Fortschritt wünsche, desto lässiger tritt es auf der Stelle. Es ist der Regisseur in seinem eigenen Film, es hat darin selbst die Hauptrolle übernommen. Wer fünf Tage bei dem Filmfestival ist, schaut dem Männchen auf dem Computer länger zu als Isabelle Huppert und Nina Hoss auf der Leinwand. Und es gab auch schon Berlinale-Ausgaben, da war dieses Vorgeplänkel besser als jeder Hauptfilm.
Täglich folgt eine neue Episode in dieser Soap Opera, eine neue Etappe auf der Wanderschaft ins Helle. Das Männchen ist das Symbol des Vorkribbelns: Klappt das mit den Karten? Werden die Filme denn auch gut? Die Höhepunkte dieser digitalen Lichtspiele sind jene Momente, in denen sich das Männchen unverhofft ein langes Stück nach vorne schiebt: schwerelos wie Michael Jackson beim Moonwalk. Als schwebte es auf einem dieser luxuriösen Laufbänder in Flughäfen. Es ist dann im Groove, seine Hände schwingen auf und ab. Lauf, Forrest, lauf.
Der Weg ist das Ziel. Und genau so sollte man über die Berlinale streifen. Auf einem Lichtstrahl. Als ein Flaneur auf der Suche nach dem Erlebnis. Und am besten geht man gar nicht, sondern tanzt.
Das werde ich beherzigen. Sobald ich endlich meine Tickets habe. Philipp Holstein