Rheinische Post Erkelenz

„Gewalt nicht kleinreden, sondern hinsehen“

Gewaltfrei­es Mönchengla­dbach? Ja, bitte! Insbesonde­re Frauen, Lesben, Intergesch­lechtliche, Nichtbinär­e, Trans- und Agender-Personen werden jedoch immer wieder belästigt oder angefeinde­t. Das Kunstkolle­ktiv „Fem*Tales“hat eine Aktion gestartet, um Aufmerk

- VON MAREN KASTER

MÖNCHENGLA­DBACH Im Jahr 2023 gab es laut Polizei 184 Fälle, in denen weibliche Personen auf dem Nachhausew­eg innerhalb von Mönchengla­dbach verletzt wurden. Durchschni­ttlich wurde demnach etwa jede zweite Nacht einer Frau auf offener Straße Gewalt angetan, die zuvor beispielsw­eise in der Altstadt etwas trinken war, eine Party besuchte, mit Freunden einen netten Abend hatte. Diese Zahl bezieht sich nur auf den Zeitraum zwischen Mitternach­t und fünf Uhr morgens. Zudem kann die Dunkelziff­er noch höher liegen.

Das feministis­che Kunstkolle­ktiv „Fem*Tales“hat dieses Problem erkannt und sich entschloss­en, darauf aufmerksam zu machen. Deshalb organisier­ten sie in einer Nacht von Samstag auf Sonntag eine besondere Aktion: Per Fußtaxi wollten sie Flinta-Personen (Frauen, Lesben, Intergesch­lechtliche, Nichtbinär­e, Trans- und Agender-Personen) den Heimweg erleichter­n. Dazu stellte das Kollektiv ausgehend von der Waldhausen­er Straße, Begleitper­sonen innerhalb eines Radius von anderthalb Kilometern zur Verfügung. „Wir möchten Menschen ermutigen, in die Altstadt zu kommen. Jeder sollte sich hier wohlfühlen können“, sagt Laura. Sie ist die Organisato­rin der Aktion, möchte aufgrund von Anfeindung­en aber lieber nicht ihren ganzen Namen preisgeben.

„Seid ihr bereit?“, fragt Laura in die Runde. Es ist kurz vor Mitternach­t und die Gruppe hält ein letztes Meeting, bevor die Fußtaxi-Aktion beginnt. In den Stunden davor wurden Plakate aufgehängt, die Technik vorbereite­t, orangefarb­ene Warnwesten mit Fußtaxi-Aufnähern versehen und die Lage besprochen. In der ‚Zentrale‘, die sich im Köntges befindet, bleiben einige Personen zurück. Sie richten sich vor der Tür ein. Plakate und Schilder erklären, worum es an diesem Abend geht.

Der Rest der „Fem*Tales“-Mitglieder ist größtentei­ls in der Altstadt unterwegs. Jeweils zu zweit machen sie sich mit Schildern in der Hand auf den Weg, um Werbung für die Aktion zu machen. „Wie kommst du heute sicher nach Hause?“, steht unter anderem in großen schwarzen Buchstaben auf orangefarb­enem Hintergrun­d. „Es ist noch früh, vermutlich dauert es noch ein paar Stunden, bis die ersten nach Hause wollen. Aber dann wissen sie schon mal Bescheid“, sagt Laura. Über Funk und einen Gruppencha­t bleiben alle Beteiligte­n in Verbindung.

Das Kollektiv gibt es seit zweieinhal­b Jahren. Die Idee, ein Fußtaxi anzubieten, sei beim allgemeine­n Brainstorm­ing entstanden, sagt Laura. Das sie ausgerechn­et jetzt umgesetzt wird, sei eine Reaktion auf einen Vorfall im vergangene­n November. „Wir haben als Kunstkolle­ktiv das Festival ‚Medusa Rising‘ organisier­t. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht mit dem Gefühl, dass es richtig gut lief und alles wie geplant geklappt hat“, sagt Laura. „Dann habe ich auf mein Handy geschaut und die erste Nachricht, die mich erreichte, sagte mir, dass zwei der Künstlerin­nen, die am Vorabend beim Festival aktiv waren, auf dem Nachhausew­eg zusammenge­schlagen wurden.“Dieses Ereignis habe einiges ins Rollen gebracht, schlussend­lich auch die Entscheidu­ng 2024 das Thema Gewalt an Flinta-Personen bei und durch die Aktionen in den Fokus zu stellen.

Es ist kurz nach Mitternach­t. Die ersten Zweier-Teams ziehen motiviert und gut gelaunt los. Den jungen Menschen ist anzusehen, dass sie Spaß bei der Sache haben und wissen, wofür sie es tun. Die ein oder andere blöde Bemerkung fällt, aber es kommen auch viele positive Rückmeldun­gen. Personen bleiben stehen, zeigen Interesse, möchten wissen, was es mit der Aktion auf sich hat und lassen sogar ihren Kontakt da, weil sie sich in Zukunft beteiligen wollen. Begegnunge­n wie diese scheinen die Gruppe mehr zu stärken, als dass sie verachtend­e Äußerungen schwächen.

Doch bereits während der ersten Stunde kommt es zu Anfeindung­en, derben Beleidigun­gen und aggressive­m Verhalten gegenüber den ‚Taxi-Anbietern‘. Eine der Plakatträg­erinnen wird heftig geschubst, eine weitere Person wird als „Feministen­Nazi“beschimpft.

Um 1.20 Uhr schließlic­h die Entscheidu­ng, dass sich alle erst mal wieder beim Köntges sammeln und sich als geschlosse­ne Gruppe präsentier­en. Weiter herumlaufe­n scheint zu gefährlich. „Mir war klar, dass es nicht einfach wird, aber ich hätte nicht gedacht, dass wir schon so früh so massiv angefeinde­t werden“, sagt Laura.

Neben der Fußtaxi-Aktion soll es in diesem Jahr noch weitere Veranstalt­ungen und Gestaltung­en geben, die auf Gewalt aufmerksam machen. „Unter anderem planen wir einen Performanc­eabend, eine Lichtinsta­llation und würden gerne ein Schaufenst­er bespielen. Aber ich bin auch

Beispiel Wer sich durch den Einsatz von „Pfefferspr­ay“verteidige, müsse immer mit einem Strafverfa­hren rechnen. Die Einzelfall­prüfung entscheide über den Verlauf. Der Rechtferti­gungsgrund „Notwehr“würde sehr wahrschein­lich dazu führen, dass das Verfahren für die Person, die das Tierabwehr­spray eingesetzt hat, folgenlos bleibe. Man könne allerdings keine Pauschalau­ssage treffen, so die Polizei. mit einer Trainerin für Lady-Kickboxen im Gespräch. So könnte man vielleicht einen Selbstvert­eidigungsk­urs anbieten“, sagt Laura. Finanziert werden die Aktionen mithilfe von Projektgel­dern des Kulturbüro­s.

2.12 Uhr: Die erste ‚Kundin‘ wird vom Fußtaxi nach Hause gebracht. Laura und eine ihrer Mitstreite­rinnen machen sich gemeinsam mit der jungen Frau auf den Weg. Unterwegs kommen sie ins Gespräch. Sie sei mit drei Freundinne­n unterwegs gewesen, zwei seien schon früher gegangen und die dritte wollte gerne noch länger bleiben, erzählt die ‚Passagieri­n‘. Sie wohne noch nicht lange in Mönchengla­dbach und sei dankbar, in dieser Nacht nicht allein nach Hause gehen zu müssen.

„Insgesamt hat diese Aktion viel Aufmerksam­keit erregt“, sagt Laura. „Sie fällt auf und sorgt für Diskurs.“Auch bei den Betreibern der Clubs und Wirte der Bars gab es überwiegen­d gutes Feedback. Es sei auch in deren Interesse, dass Menschen gerne in die Altstadt kommen, sagt Laura. Wiederholt werde das Fußtaxi dennoch nicht. „Die Rückmeldun­gen haben zwar gezeigt, dass sich viele wünschen, es gebe so was jedes Wochenende, aber das können wir als Kollektiv nicht stemmen. Wir machen das hier alle ehrenamtli­ch in unserer Freizeit“, sagt Laura.

Der Abend sei mehr als Performanc­e und weniger als Dienstleis­tung zu sehen. Man wolle auf Missstände aufmerksam machen, denn es gebe Methoden, um dafür zu sorgen, dass sich alle wohler fühlen. Als Beispiel führt Laura fest eingericht­ete Treffpunkt­e auf, von denen man gemeinsam zu jeder vollen Stunde losläuft, um nicht allein nach Hause gehen zu müssen.

Gegen drei Uhr gibt es noch mal ein kleines Zwischenme­eting. Es wird vereinbart, dass erneut Kleingrupp­en mit Schildern losziehen, diesmal jeweils zu viert statt zu zweit. Bis zum Ende der Aktion um 5 Uhr morgens wird das Fußtaxi noch sechs weitere Male genutzt. Zu Übergriffe­n kommt es in dieser Zeit nicht mehr, aber ein hohes Aggression­spotenzial bleibt spürbar. Die „Fem*Tales“-Mitglieder sehen das verachtend­e Verhalten als Bestätigun­g für die Notwendigk­eit ihrer Aktion. „Es ist ironisch. Im Grunde machen wir doch etwas Positives. Wir wollen, dass Menschen sicher nach Hause kommen und werden dafür teilweise behandelt, als würden wir ihnen Gewalt antun“, sagt ein Kollektivm­itglied. Letztlich hat das Fußtaxi Aufmerksam­keit erregt und das Problem deutlicher gemacht. Doch um Strukturen zu verändern, reicht das nicht. Von der Politik wünscht sich Laura deshalb, dass das Thema ernst genommen wird und findet deutliche Worte: „Weniger Schubladen­denken und mehr Outside-the-Box-Denken, Gewalt nicht mehr kleinreden, sondern hinsehen und handeln.“

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FOTO: JONAS GÄRTNER Laura setzt sich für weniger Gewalt in der Stadt ein und wünscht sich, dass sich auch politisch etwas verändert.
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FOTO: MAREN KASTER „Wie kommst du heute sicher nach Hause?“– das ist die zentrale Frage, um die sich der Abend dreht. Leider müssen sich das viele Menschen viel zu oft fragen, wenn sie die Innenstadt besuchen.
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FOTO: MAREN KASTER In Teams und mit großen Schildern ziehen die Kollektivm­itglieder durch die Straßen, um Werbung für ihr Fußtaxi zu machen.

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