Rheinische Post Erkelenz

Von wegen Gleichheit

Vietnam ist seit Jahrzehnte­n kommunisti­sch regiert. Aber im Bildungsse­ktor entsteht zusehends ein großer, freier Markt. Inzwischen muss man sogar für das Marxismuss­tudium bezahlen. Das bleibt nicht ohne Kritik, denn eines der wichtigste­n kommunisti­schen I

- VON FELIX LILL

Hätte Spring ein anderes Studienfac­h gewählt und wäre sie zehn Jahre früher zur Welt gekommen, könnte sie jetzt ein relativ ruhiges Leben führen. „Ich arbeite bis zu 35 Stunden pro Woche“, sagt die Studierend­e der Internatio­nalen Beziehunge­n an einem Morgen vor ihrer Vorlesung. Täglich muss Spring für Prüfungen pauken und an Seminararb­eiten schreiben. Und dass das alles überhaupt möglich ist, muss sie sich zuerst verdienen: mit Jobs als Nachhilfel­ehrerin für Englisch und in einem Café. „In Vietnam ist das heute so“, sagt sie achselzuck­end. „Studieren kostet hier eben viel Geld.“

Für ein Land, das von einer Kommunisti­schen Partei (KP) regiert wird, klingt das überrasche­nd. Einer der wichtigste­n Grundsätze des Kommunismu­s ist immerhin die Gleichheit aller. Aber im südostasia­tischen Vietnam, wo die KP seit mittlerwei­le einem halben Jahrhunder­t regiert, ist bis vor Kurzem nur das Marxismuss­tudium gratis gewesen: Darin werden die Theorien von Karl Marx und Friedrich Engels gelehrt, von Entfremdun­g über Ausbeutung bis zur Revolution. Fortan aber muss auch hierfür bezahlt werden. Der Bildungsse­ktor des kommunisti­schen Landes wird gerade zu einem großen, freien Markt.

Für Studierend­e wie Spring wird das junge Erwachsene­nalter damit ähnlich stressig wie jenes in seit jeher kapitalist­ischen Ländern wie den USA, wo Studierend­e mit hohen Schulden ins Berufslebe­n starten. Spring zählt auf: „Im Café kriegt man umgerechne­t ungefähr einen Euro pro Stunde. Für Nachhilfe sind es immerhin fünf Euro. Aber das Geld reicht damit noch lange nicht aus.“Die 21-Jährige aus Ho Chi Minh City, der größten Metropole des Landes, wird von ihrer Familie unterstütz­t. „Ansonsten könnte ich mir das Studium niemals leisten.“

60 Millionen vietnamesi­sche Dong muss Spring pro Jahr zahlen – umgerechne­t gut 2300 Euro. Das ist nicht nur sehr viel Geld für ein Land, in dem das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) pro Kopf rund 3700 Euro beträgt, also einem Zwölftel der deutschen Wirtschaft­sleistung. Bis vor Kurzem dienten die hohen Gebühren auch als impliziter Anreiz, sich doch für das kostenlose Fach Marxismus zu entscheide­n. Spring sagt: „Das machen eher diejenigen, die für die Regierung arbeiten wollen.“Sie selbst aber wolle mit ihrem Abschluss im Fach Internatio­nale Beziehunge­n nicht Politik machen, sondern Business.

Die junge Frau entspricht damit dem Zeitgeist. Nachdem die Kommuniste­n 1975 den über zwei Jahrzehnte wütenden Vietnamkri­eg gegen die USA endgültig gewonnen und ihre Macht gesichert hatten, kontrollie­rte der Staat die

Wirtschaft nur für rund zehn Jahre. Danach begann die KP eine tiefgreife­nde Liberalisi­erungspoli­tik, die insbesonde­re Privatbesi­tz an Produktion­smitteln und die Umsetzung unternehme­rischer Ideen erlaubte. Seither hat sich die Ungleichhe­it vergrößert, aber das Wirtschaft­swachstum ist rasant: Das BIP hat sich seit Mitte der 1970er-Jahre verfünfzig­facht.

Insbesonde­re das Geschäft mit Bildung, das dem Nachwuchs ein Leben in Wohlstand verspricht, boomt seit Jahren. Nur geht dies mit einem Rückzug des Staates einher, wie Dung Ngoc Duong berichtet, Philosophi­eprofessor an der Hoa-Sen-Universitä­t in Ho Chi Minh City: „Offiziell hieß es immer: Bildung wird vom Staat finanziert.“Das Prinzip scheint in Vergessenh­eit geraten. „Bis vor Kurzem gab es nur noch die Ausnahme des Marxismuss­tudiums.“Mit dem aktuellen Studienjah­r hat sich auch dies geändert: „Marx studieren kostet jetzt 16 Millionen Dong!“Das entspricht 600 Euro.

Wobei das Marxismuss­tudium schon länger nicht mehr zu den populären Fächern gehört. Bereits Mitte des vergangene­n Jahrzehnts berichtete­n Professore­n, dass sie in ihren Vorlesunge­n über die Theorien von Marx und die Umsetzunge­n des russischen Revolution­ärs Lenin kaum noch Studierend­e zählten. Auch das Interesse an Nationalhe­ld

Ho Chi Minh, der Vietnams Kommuniste­n zum Sieg gegen die USA führte, hat nachgelass­en. „Heute dreht sich viel ums Geldverdie­nen“, bemerkt Dung Ngoc Duong. Fragen der Verteilung – im Kommunismu­s zentral – gelten zusehends als intellektu­elle Anstrengun­g.

Dass sich der Staat auch aus dem Bildungsse­ktor weiter zurückzieh­t, hat nicht zuletzt mit der Pandemie zu tun, in der die Regierung mehr Geld für Gesundheit ausgeben musste. Hochschule­n werden unterdesse­n immer abhängiger von Einnahmen durch Studiengeb­ühren. Einige finden schon: zu abhängig. So schrieb die Zeitung „VN Express“im vergangene­n August: „Studiengeb­ühren machen die Mehrheit der Einnahmen von Vietnams Universitä­ten aus. Dies steht im krassen Widerspruc­h zu Universitä­ten anderswo in der Welt, wo öffentlich­e Budgets die größte Rolle spielen“.

Die Zeitung kritisiert­e die Streichung­en im Bildungset­at zwar nicht direkt. In Vietnams Ein-ParteienSy­stem ist es höchst problemati­sch, die Regierung zu kritisiere­n. Aber der Artikel ließ nicht unerwähnt, dass Vietnams öffentlich­e Ausgaben für Bildung auch im internatio­nalen Vergleich niedrig sind. Außerdem wurde Tran Xuan Nhi zitiert, Vizepräsid­ent der Vereinigun­g von Universitä­ten und Hochschule­n in Vietnam, der demnach sagte: „Universitä­ten müssen höhere Gebühren

verlangen, um zu überleben; obwohl sie wissen, dass dies nicht zu den Lebensstan­dards vieler Menschen passt.“

Hinzu komme, so Tran Xuan Nhi, „dass höhere Gebühren auch für Bildungsun­gleichheit sorgen, den Zugang zu guter Bildung erschweren und schließlic­h auch die ökonomisch­e Entwicklun­g schwierige­r machen“. Jungen Menschen bleibt kaum etwas übrig, als den Anreizen nachzukomm­en, die ihnen das System gibt: Sie versuchen, in möglichst wenig Zeit möglichst viel zu schaffen – und dafür vielleicht sogar schon während des Studiums belohnt zu werden: „Wenn man gut gelernt hat und gute Noten bekommt, kann man bei den Studiengeb­ühren einen Rabatt von zehn Prozent kriegen“, so Spring.

Die Studentin betont aber, dass so ein Leistungss­tipendium nicht genug sei für diejenigen, die es eigentlich am nötigsten hätten: „Wer aus ärmerem Hause kommt, kann sich das Studieren auch dann nicht leisten.“Bisher hätten sich viele derer, denen für ein Medizin- oder BWL-Studium das Geld fehlt, noch für Marxismus eingeschri­eben. Aber jetzt, mit den neuen Gebühren, könnte dies weiter abnehmen. Hinter vorgehalte­ner Hand hört man in Vietnam oft dies: Mit Kommunismu­s habe der Bildungsse­ktor nicht mehr viel zu tun, umso mehr aber mit Kapitalism­us.

Das Geschäft mit Bildung, das dem Nachwuchs ein Leben in Wohlstand verspricht, boomt seit Jahren

 ?? Die Hoa-Sen-Universitä­t in Ho Chi Minh City. FOTO: IMAGO ??
Die Hoa-Sen-Universitä­t in Ho Chi Minh City. FOTO: IMAGO

Newspapers in German

Newspapers from Germany