Sprachforschung vor der eigenen Haustür
Mundart ist für den Historischen Verein Wegberg ein bedeutendes Thema. Als Dietmar Schmitz auf die Wenkerbögen stieß, erkannte er sofort das Potenzial. Inzwischen hat er mehr als 10.000 Sätze abgeschrieben.
„Habt ihr kein Stückchen Seife auf dem Tisch gefunden?“, „Man muß ihn bedauern, er ist ein gutmüthig Schaf.“, „Ich schlage dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, wenn du nicht bald gehst, du Affe!“– Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Reihe von Worten mit teils seltsamem Zusammenhang und unfreiwilliger Komik, sind tatsächlich drei von 40 Sätzen, die bei der Erforschung der deutschen Dialekte eine wichtige Rolle spielen. Um diese sogenannten Wenkersätze und die Untersuchung, für die sie ursprünglich einmal vom Dialektologen Georg Wenker ausgedacht wurden, geht es unter anderem im Historischen Verein Wegberg, der mit Dietmar Schmitz einen sogenannten Bürgerforscher für den Deutschen Sprachatlas in seinen Reihen hat.
Georg Wenker (1852 in Düsseldorf geboren, 1911 in Marburg verstorben) verwendete die Methodik der indirekten Befragung, indem zwischen 1876 und 1887 an die Lehrer sämtlicher Schulorte ein Fragebogen mit Sätzen geschickt wurde, die in den örtlichen Dialekt übersetzt werden sollten. Dabei waren die Sätze so zusammengestellt, dass typische lautliche und ausgewählte grammatikalische Eigenschaften der betreffenden Dialekte in der Übersetzung hervortreten mussten. Durch die Wahl der Sätze ließen sich auch kleinste Lautunterschiede grafisch auf Karten darstellen. Der Haken: Die Fragebögen wurden größtenteils in deutscher Kurrentschrift ausgefüllt, das war die damals übliche Schreibschrift. Weil diese
Schrift heute kaum noch jemand lesen kann, ist man in der Forschung auf Freiwillige angewiesen, die sich mit Kurrentschrift auskennen – und wie Dietmar Schmitz aus Klinkum dabei mithelfen, die ausgefüllten Fragebögen abzuschreiben. Viel Zeit und Fleiß hat der 69-Jährige in dieses Projekt gesteckt und vor Kurzem den 10.000. Wenkersatz in der Wenkerbogen-App (zu finden in der App unter „Dä Berker Wenk-er“) transliteriert, also in die heutige Schrift überführt. Damit führt er aktuell mit insgesamt 10.194 Sätzen das Leaderboard der Universität Marburg. Mit dem dortigen Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas DSA, das aus dem Forschungsinstitut für Deutsche Sprache, das Wenker geleitet hatte, hervorging, steht der Verein in engem Austausch.
Doch wie kam es dazu, dass Dietmar Schmitz, der sich seit 30 Jahren im Historischen Verein Wegberg engagiert, sich dieses Projekt aneignete? „Dazu muss ich etwas ausholen“, sagt er und lacht. „Es fing eigentlich bereits in der Volksschule
an. Im Kurzschuljahr 1965 habe ich damit begonnen, die Sütterlinschrift zu üben, jedoch lediglich einzelne Buchstaben auf meiner Schreibtafel“, erinnert er sich. Das war die Grundlage für alles, was folgen sollte. „Als Jugendlicher begann ich, mich
mit Ahnenforschung zu befassen – irgendwann kommt man dann an den Punkt, an dem man Standesamturkunden lesen muss, zum Teil in Kurrentschrift.“Obwohl er selbst kein Platt spreche, seien ihm die regionalen Unterschiede aufgefallen, schon zwischen Klinkum und Arsbeck waren sie sehr deutlich. „Die Besonderheiten in der Sprache, die sich anhand der Wenkerbögen vergleichen und nachvollziehen lassen, werden wissenschaftlich aufgearbeitet. Dabei wollte ich mitmachen.“
Im Juli vergangenen Jahres begann Dietmar Schmitz also damit, die Wenkersätze zu transliterieren. „Ich bin jetzt beim 250. Bogen, jeder Bogen besteht aus 40 Sätzen. Damit soll dann auch Schluss sein.“
Denn irgendwie habe sich seine Arbeit verselbstständigt: Was mit 18 Bögen von zwölf Schulen in Wegberg begann, zog immer weitere Kreise. „Dann haben mich natürlich auch die Orte interessiert, aus denen meine Vorfahren stammen. Und so kam ich plötzlich von Wegberg über die Altkreise Erkelenz, Geilenkirchen und Heinsberg in Mönchengladbacher Stadtgebiet.“Manchmal sei es sehr anstrengend gewesen, die Sätze abzutippen – besonders die Antworten von den Lehrern, die auch gerne mal ausschweifender oder kommentierend waren. „Grundsätzlich begegnet einem der Dialekt eher in gesprochener Sprache“, erklärt Schmitz. „Manche Lehrer haben sich sichtlich schwer damit getan, ihren Dialekt zu verschriftlichen und hatten das Gefühl, dass die Buchstaben des deutschen Alphabets den Lauten des Dialekts nicht gerecht werden können. So haben sie sich besondere Zeichen ausgedacht und Erklärungen dazugeschrieben, wie diese zu interpretieren sind.“
Auch Hermann-Josef Heinen kann seine Begeisterung kaum zügeln, was dieses Projekt angeht: „Die Bögen gibt es seit rund 140 Jahren, sie haben lange in den Archiven geschlafen, bis die Uni Marburg auf die Idee kam, sie zu digitalisieren. Und durch die App sind sie nun nach Nummern und Orten findbar“, sagt der Vorsitzende des Historischen Vereins Wegberg.
Derzeit suchen Dietmar Schmitz und Hermann-Josef Heinen nach Freiwilligen, die den Mundart-Satz vorlesen und ihn in ihre heutige Sprache übersetzen. „Da finden wir auch wieder Unterschiede zum damaligen Sprechen“, so Heinen. Gesucht werden noch Teilnehmerinnen oder Teilnehmer aus Uevekoven und Geneiken, was bis zur kommunalen Neuglierderung zu Wegberg gehört hatte. Die Audio-Dateien sollen dann ebenfalls auf der Homepage des Historischen Vereins präsentiert werden.