Mondäne Vergangenheit, elegante Moderne
Ob Backsteinbauten, Bädervillen oder Betonschalen – in puncto Architektur ist die Insel Rügen eine Schatzkammer.
Schon die Natur zeigt sich auf Deutschlands größter Insel als innovativer Baumeister. Da waren die Eiszeiten, die Rügens zerklüftetes Gesicht modellierten, mit Buchten, Bodden, Wieken, Halbinseln und Landzungen. Da ist die Meeresbrandung, die unermüdlich an atemberaubenden Steilküsten und Kreidefelsen nagt. Da sind die Welterbe-Buchenwälder, die ihre Blätterdächer zu weitläufigen Hallen aufspannen. Da sind Salzwiesen, Sandund Steinstrände, die bunte Teppiche weben. Und vieles mehr. Davon nachhaltig inspiriert, hat auch der Mensch auf diesem gesegneten Boden ein kreatives Potenzial entfaltet, das in seiner Vielfalt auf so engem Raum seinesgleichen sucht. Reetgedeckte Fischerkaten und reich verzierte Bäderstilvillen, großartige Backsteinkirchen und moderne Hyparschalen, klassizistische Planstadt und monströser Betonkoloss, elegante Seebrücken und stolzes Pylonen-Pendant, Schinkels Leuchtturm am Kap Arkona und Fürst Maltes Jagdschloss in der Granitz – all das zeugt von Menschen mit gestalterischen Visionen. Und jedes Objekt erzählt seine Geschichte über Raum und Zeit.
Das Vergnügen beginnt schon mit der Zufahrt: Was sich wie eine überdimensionale Stimmgabel 127,5 Meter über den Strelasund spreizt, ist ein imposanter Pylon, dessen acht harfenförmig gespannte Stahlseile
Deutschlands größte Schrägseilbrücke tragen. Ein Jahrhundertbau von gut vier Kilometer Länge, der die Hansestadt Stralsund mit der Insel verbindet.
Dort geht es Schlag auf Schlag weiter. Ein kurzer Abstecher nach rechts über die Deutsche Alleenstraße und schon landet man im klassizistischen Juwel Putbus. Ein Unikat mit kreisrundem Circus im Zentrum, Obelisk in der Rondellmitte und 15 zwei- bis dreistöckigen Häusern akkurat im Kreis drumherum. Ein Traum in Schneeweiß mit Schloss, Theater und Fasanerie, den sich Kurfürst Malte I. vor 200 Jahren erfüllte – heute sein bedeutendstes Vermächtnis. Und übrigens auch Taufbecken des Rügener Bäderstils: 1833 eröffnete bei Putbus das Warmwasser-Badehaus
Goor mit allem seinerzeit nur erdenklichen Luxus und Pomp.
Wiederum nur einen Katzensprung weiter gen Osten gelangt man dann an die populären Strände der Ostsee. Zum Beispiel Sellin. Strahlend weiß und wie Perlen an einer Kette reiht sich Villa an Villa, allerliebst geschmückt mit Türmchen, Erkern, Veranden. Hier eröffnete 1896 das erste Hotel seine Pforten, zehn Jahre später kam die Seebrücke hinzu: als Königin und stolzes Wahrzeichen des Ostseebades. Mit toller Bäderarchitektur bezaubert neben Sellin vor allem Platzhirsch Binz; aber auch in Sassnitz, Baabe, Göhren und Thiessow finden sich diverse Perlen aus der Geburtszeit des Badetourismus.
In und um Binz begeistern weitere Asse die Fans
von historischer und moderner Architektur. Zum einen das Jagdschloss Granitz auf dem Tempelberg. Wer ihn erklimmt, steht 106 Meter über dem Meer – für eine Ostseeinsel ist das gigantisch.
Und er steht vor einem Juwel, das im wahrsten Wortsinn der Höhepunkt von Rügen ist: Inmitten des Naturschutzgebietes Granitz und umgeben von urigen Buchenwäldern, krönt das Märchenschloss den Höhenrücken zwischen den Ostseebädern Binz und Sellin. Nummer zwei: der Koloss von Prora. Ein monströser Betonwurm von ursprünglich acht Blöcken und 4,5 Kilometern Ausdehnung, war diese Ikone des Größenwahns das längste Bauwerk der Nazis. 20.000 Feriengäste sollten sich hier erholen, doch der
Zweite Weltkrieg machte dem einen Strich durch die Rechnung. Heute sind die fünf verbliebenen Blöcke fast vollständig saniert und zu einer Mega-Urlaubsanlage umgestaltet.
Fast in Sichtweite, allerdings gut getarnt im Wald, reckt sich im Prorer Hinterland ein Aussichtspunkt in den Himmel. Er ist Herzstück und Finale des Baumwipfelpfades, der im Naturerbezentrum Rügen in 15 Meter Höhe durch die Kronen urwüchsiger Buchen führt. Nach 650 Metern schraubt sich das Bauwerk plötzlich raffiniert nach oben. Nochmal 600 Meter in Kreisen um eine Buche herum auf den 40 Meter hohen Gipfel. Dieser wurde einem Adlerhorst nachempfunden und lässt in puncto Rundum-Panorama keinerlei Wünsche offen.
Mutig. Mutiger. Müther. Der „Landbaumeister von Rügen“, wie er sich selbst nannte, war ein Visionär, für dessen wunderbar luftige und extravagante Werke es keinerlei Normen gab. Der Spezialist wurde berühmt durch seine filigranen Dächer aus Spritzbeton-Hyparschalen, die wie schwebende Segel oder schwingende Flügel große Flächen überspannten. Damit setzte er nicht nur Kontraste zur PlattenbauArchitektur, seine hyperbolischen Paraboloidschalen sind wahre Perlen der Ingenieurskunst, architektonische Kunstwerke und bedeutende Beispiele der DDR-Moderne.
In 36 Berufsjahren schuf Müther 74 Schalenbauten: Messehallen, Gaststätten, Orchesterpavillons, Bobbahnen. Velodrome in Stettin und Havanna, Planetarien in Libyen und Kuweit. Und auch an der Ostseeküste und auf seiner Heimatinsel errichtete er eine Reihe spektakulärer Bauwerke. Neben dem ET, der seinen Kopf aus den Binzer Dünen steckt, etwa die Kurmuschel in Sassnitz – eine versteinerte Walschwanzflosse zwischen zwei bulläugigen Schiffsrümpfen. Die dreieckige Gaststätte „Ostseeperle“in Glowe, die wie ein Schiffswrack Richtung Meer weist. Oder das „Inselparadies“in Baabe mit herrlichem Panoramablick.
Zweckmäßige Alltagsnutzung in utopischem Outfit – eben ganz so, wie Ulrich Müther es allezeit wollte.