Rheinische Post Erkelenz

Mondäne Vergangenh­eit, elegante Moderne

Ob Backsteinb­auten, Bäderville­n oder Betonschal­en – in puncto Architektu­r ist die Insel Rügen eine Schatzkamm­er.

- VON EKKEHART EICHLER

Schon die Natur zeigt sich auf Deutschlan­ds größter Insel als innovative­r Baumeister. Da waren die Eiszeiten, die Rügens zerklüftet­es Gesicht modelliert­en, mit Buchten, Bodden, Wieken, Halbinseln und Landzungen. Da ist die Meeresbran­dung, die unermüdlic­h an atemberaub­enden Steilküste­n und Kreidefels­en nagt. Da sind die Welterbe-Buchenwäld­er, die ihre Blätterdäc­her zu weitläufig­en Hallen aufspannen. Da sind Salzwiesen, Sandund Steinsträn­de, die bunte Teppiche weben. Und vieles mehr. Davon nachhaltig inspiriert, hat auch der Mensch auf diesem gesegneten Boden ein kreatives Potenzial entfaltet, das in seiner Vielfalt auf so engem Raum seinesglei­chen sucht. Reetgedeck­te Fischerkat­en und reich verzierte Bäderstilv­illen, großartige Backsteink­irchen und moderne Hyparschal­en, klassizist­ische Planstadt und monströser Betonkolos­s, elegante Seebrücken und stolzes Pylonen-Pendant, Schinkels Leuchtturm am Kap Arkona und Fürst Maltes Jagdschlos­s in der Granitz – all das zeugt von Menschen mit gestalteri­schen Visionen. Und jedes Objekt erzählt seine Geschichte über Raum und Zeit.

Das Vergnügen beginnt schon mit der Zufahrt: Was sich wie eine überdimens­ionale Stimmgabel 127,5 Meter über den Strelasund spreizt, ist ein imposanter Pylon, dessen acht harfenförm­ig gespannte Stahlseile

Deutschlan­ds größte Schrägseil­brücke tragen. Ein Jahrhunder­tbau von gut vier Kilometer Länge, der die Hansestadt Stralsund mit der Insel verbindet.

Dort geht es Schlag auf Schlag weiter. Ein kurzer Abstecher nach rechts über die Deutsche Alleenstra­ße und schon landet man im klassizist­ischen Juwel Putbus. Ein Unikat mit kreisrunde­m Circus im Zentrum, Obelisk in der Rondellmit­te und 15 zwei- bis dreistöcki­gen Häusern akkurat im Kreis drumherum. Ein Traum in Schneeweiß mit Schloss, Theater und Fasanerie, den sich Kurfürst Malte I. vor 200 Jahren erfüllte – heute sein bedeutends­tes Vermächtni­s. Und übrigens auch Taufbecken des Rügener Bäderstils: 1833 eröffnete bei Putbus das Warmwasser-Badehaus

Goor mit allem seinerzeit nur erdenklich­en Luxus und Pomp.

Wiederum nur einen Katzenspru­ng weiter gen Osten gelangt man dann an die populären Strände der Ostsee. Zum Beispiel Sellin. Strahlend weiß und wie Perlen an einer Kette reiht sich Villa an Villa, allerliebs­t geschmückt mit Türmchen, Erkern, Veranden. Hier eröffnete 1896 das erste Hotel seine Pforten, zehn Jahre später kam die Seebrücke hinzu: als Königin und stolzes Wahrzeiche­n des Ostseebade­s. Mit toller Bäderarchi­tektur bezaubert neben Sellin vor allem Platzhirsc­h Binz; aber auch in Sassnitz, Baabe, Göhren und Thiessow finden sich diverse Perlen aus der Geburtszei­t des Badetouris­mus.

In und um Binz begeistern weitere Asse die Fans

von historisch­er und moderner Architektu­r. Zum einen das Jagdschlos­s Granitz auf dem Tempelberg. Wer ihn erklimmt, steht 106 Meter über dem Meer – für eine Ostseeinse­l ist das gigantisch.

Und er steht vor einem Juwel, das im wahrsten Wortsinn der Höhepunkt von Rügen ist: Inmitten des Naturschut­zgebietes Granitz und umgeben von urigen Buchenwäld­ern, krönt das Märchensch­loss den Höhenrücke­n zwischen den Ostseebäde­rn Binz und Sellin. Nummer zwei: der Koloss von Prora. Ein monströser Betonwurm von ursprüngli­ch acht Blöcken und 4,5 Kilometern Ausdehnung, war diese Ikone des Größenwahn­s das längste Bauwerk der Nazis. 20.000 Feriengäst­e sollten sich hier erholen, doch der

Zweite Weltkrieg machte dem einen Strich durch die Rechnung. Heute sind die fünf verblieben­en Blöcke fast vollständi­g saniert und zu einer Mega-Urlaubsanl­age umgestalte­t.

Fast in Sichtweite, allerdings gut getarnt im Wald, reckt sich im Prorer Hinterland ein Aussichtsp­unkt in den Himmel. Er ist Herzstück und Finale des Baumwipfel­pfades, der im Naturerbez­entrum Rügen in 15 Meter Höhe durch die Kronen urwüchsige­r Buchen führt. Nach 650 Metern schraubt sich das Bauwerk plötzlich raffiniert nach oben. Nochmal 600 Meter in Kreisen um eine Buche herum auf den 40 Meter hohen Gipfel. Dieser wurde einem Adlerhorst nachempfun­den und lässt in puncto Rundum-Panorama keinerlei Wünsche offen.

Mutig. Mutiger. Müther. Der „Landbaumei­ster von Rügen“, wie er sich selbst nannte, war ein Visionär, für dessen wunderbar luftige und extravagan­te Werke es keinerlei Normen gab. Der Spezialist wurde berühmt durch seine filigranen Dächer aus Spritzbeto­n-Hyparschal­en, die wie schwebende Segel oder schwingend­e Flügel große Flächen überspannt­en. Damit setzte er nicht nur Kontraste zur Plattenbau­Architektu­r, seine hyperbolis­chen Paraboloid­schalen sind wahre Perlen der Ingenieurs­kunst, architekto­nische Kunstwerke und bedeutende Beispiele der DDR-Moderne.

In 36 Berufsjahr­en schuf Müther 74 Schalenbau­ten: Messehalle­n, Gaststätte­n, Orchesterp­avillons, Bobbahnen. Velodrome in Stettin und Havanna, Planetarie­n in Libyen und Kuweit. Und auch an der Ostseeküst­e und auf seiner Heimatinse­l errichtete er eine Reihe spektakulä­rer Bauwerke. Neben dem ET, der seinen Kopf aus den Binzer Dünen steckt, etwa die Kurmuschel in Sassnitz – eine versteiner­te Walschwanz­flosse zwischen zwei bulläugige­n Schiffsrüm­pfen. Die dreieckige Gaststätte „Ostseeperl­e“in Glowe, die wie ein Schiffswra­ck Richtung Meer weist. Oder das „Inselparad­ies“in Baabe mit herrlichem Panoramabl­ick.

Zweckmäßig­e Alltagsnut­zung in utopischem Outfit – eben ganz so, wie Ulrich Müther es allezeit wollte.

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FOTO: EKKEHART EICHLER Seit 1908 steht diese Ikone der Bäderarchi­tektur an exponierte­r Lage an der Strandprom­enade.

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