Die Grenzen der Korrektheit
Ein Gymnasium in Bayern will den Namen Otfried Preußlers loswerden – der Kinderbuchautor verherrlichte als Jugendlicher in der NS-Zeit die Hitlerjugend. Historische Sensibilität ist lobenswert, aber Abwägung tut not.
MEINUNG
Noch vor gut einem Jahr punktete die Schule im Isartal südlich von München mit unverfänglichen Nachrichten: „Das Otfried-Preußler-Gymnasium in Pullach ist jetzt Teil von Deutschlands größtem Schulnetzwerk ,Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage’“, meldete etwa die „Süddeutsche Zeitung“samt Foto freundlicher Gesichter. Schülerinnen, der Schulleiter, ein Sozialpädagoge, Pullachs Bürgermeisterin und Vertreterinnen der Initiative „Omas gegen rechts“lächeln für die Kamera, scheinen stolz auf die Auszeichnung „diskriminierungsfreie Schule“, die eine Verpflichtung mit sich bringt: für ein Klima einzutreten, in dem Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Religion oder Herkunft kein Mobbing, keine Benachteiligung oder gar Gewalt fürchten sollen.
Nach den Schlagzeilen in diesen Tagen über eben jene Schule drängt sich die Frage auf: Kann man es mit der politischen Korrektheit auch übertreiben? Es geht um den Namensgeber des Gymnasiums, Otfried Preußler, und seine Vergangenheit in der NS-Zeit. Ein Lehrer der Schule hatte die Neugier zu einer fünfjährigen Recherche getrieben, weil er zum Namensgeber der Schule keine ausführliche Biografie finden konnte. Wie der junge Mathematik- und Physiklehrer in einem Interview mit der „SZ“im November berichtete, fuhr er dafür nach Tschechien, untersuchte Unterlagen, etwa Beförderungslisten der Hitlerjugend sowie drei Texte, in denen Preußler über seine HJ-Arbeit schreibt. Neu sei gewesen, so der Lehrer, dass Preußler mit 17 in die NSDAP eintrat, das sei sogar für die damalige Zeit ungewöhnlich gewesen. Ebenso sein Religionswechsel von katholisch auf „gottgläubig“, üblich in der NS-Elite.
Verständlich ist der Impuls aus der Schule heraus – wohlgemerkt nicht vom Rechercheur selbst –, auf Grundlage dieser teils neuen Erkenntnisse auch über den Namen des Gymnasiums neu zu diskutieren. Schulen sind schließlich Bildungseinrichtungen, die nicht nur abrufbares Wissen vermitteln, sondern auch die Meinungsbildung Heranwachsender fördern sollen. Noch dazu sind Nationalsozialismus, Krieg, Gefangenschaft auch in ihren moralischen Dimensionen für junge Menschen so interessant wie relevant vor dem Hintergrund aktuellen Geschehens. Aus der Geschichte lernen – als Grundsatzprinzip. Dazu gehört allerdings auch, Gegebenheiten in ihrem historischen Kontext zu verstehen.
Aus heutigem zeitgeschichtlichen Verständnis ist Otfried Preußler vor allem eines: ein gefeierter Kinderbuchautor, dessen Werke millionenfach verkauft, vielfach in andere Sprachen übersetzt, in Theaterstücken aufgeführt und in Bildern gezeichnet wurden. Kaum ein Kinderzimmer, in dem in den vergangenen Jahrzehnten nicht „Räuber Hotzenplotz“gelesen wurde; kaum eine Buchhandlung, die nicht „Krabat“heute noch vorrätig hat. Aber ein Sudetendeutscher mit brauner Vergangenheit, ein NSDAP-Mitglied mit Bewunderung für die Hitlerjugend? Dieses Image von Otfried Preußler gab es nie – weil er es selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nie zum Thema machte. Anders als Günter Grass, der nicht nur Mitglied der NS-Massenpartei, sondern auch im Dienst der Waffen-SS war, wenn auch nur für einige Monate.
Grass kam nach seiner kurzen Zeit in der Division „Frundsberg“zu Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft, ließ sich läutern, wurde später zu einem engagierten Demokraten, einem beispiellosen politischen Nachkriegsliteraten. Seine Selbstenttarnung als SS-Soldat aber geschah spät, für manche zu spät. 79 Jahre alt war Grass, als er dieses dunkle Kapitel mit seinem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“2006 zum Thema machte. Sein Schweigen darüber in Kombination mit seiner nach außen getragenen moralischen Unanfechtbarkeit wog für viele schwer. Schwerer wohl als die eigentliche Tatsache, dass er in seiner Jugend – er war wie Preußler ebenfalls 17 Jahre alt – sich den Nationalsozialisten angeschlossen hatte. Zumal Günter Grass selbst in einer juristischen Auseinandersetzung klarstellte, nicht freiwillig zur SS gegangen, sondern rekrutiert worden zu sein.
Otfried Preußler, der im Oktober vergangenen Jahres 100 Jahre alt geworden wäre, hat sich zu seiner Jugend nie geäußert. Seine (bisher bekannten) drei Schriften mit Bezug auf die Hitlerjugend müssen im historischen Kontext bewertet werden und eignen sich daher wenig als Generalurteil über den Mann, der Zeit seines restlichen Lebens Kinderbücher verfasste. Bestritten habe er zudem nie, in der Hitlerjugend gewesen zu sein, sagte seine Tochter Susanne PreußlerBitsch kürzlich der „Süddeutschen“. „Hier wird mit wahnsinniger Macht etwas konstruiert und mit drei Jahren jugendlicher Adoleszenz 90 Jahre eines ehrenwerten Lebens versucht kleinzutreten“, so die Historikerin wörtlich.
Man kann ihrer Argumentation folgen, muss aber das Bemühen der Schule anerkennen: Sie will eben hinter dem Namensgeber stehen können und ihn uneingeschränkt als Vorbild wissen. Ob die Umbenennung in „Staatliches Gymnasium Pullach“notwendig ist? Schulen, Gemeinderat und Kultusministerium meinen: Ja. In Pullach scheint das entschieden, an rund 20 anderen Otfried-Preußler-Schulen in Deutschland, darunter auch in Köln und in Mettmann, ist all das offenkundig bisher kein Thema.
Die Empfindsamkeit bei der Namensgebung öffentlicher Straßen und Gebäude ist größer geworden. Die Sensibilität, die Jung und Alt in Bezug auf Vergangenes heute an den Tag legen, ist lobenswert. Sie darf aber nicht zu dem Automatismus führen, Personen allein danach zu be- und zu verurteilen. Das Werk Preußlers bleibt bestehen, sein Vermächtnis ist größer als der Fehltritt, die Verführung in seiner Jugend. Wenn die Otfried-Preußler-Grundschule in Mettmann weiter Otfried-Preußler-Schule hieße, wäre das kein Skandal.
„Hier wird mit wahnsinniger Macht etwas konstruiert“Susanne Preußler-Bitsch Tochter