Rheinische Post Erkelenz

„Ich habe mein Ohr ganz nah an Bens Herz“

Mit einem seltenen Gendefekt ist Ben zur Welt gekommen. Inzwischen hat er rund 50, meist kurze epileptisc­he Anfälle täglich. Wie seine Familie das meistert und warum sie jetzt auf Spenden für ein rollstuhlg­erechtes Auto angewiesen ist.

- VON LESLIE BROOK

Ben ist eben von der Schule nach Hause gekommen. Er ist erschöpft und schläft ein wenig auf dem Sofa. Der Elfjährige besucht die Paul-Moor-Schule. Zur Förderschu­le wird er geholt und gebracht. Für alle anderen Fahrten wird das Auto der Familie benötigt. Doch das reicht nicht mehr aus, seitdem Ben nach einer Knieoperat­ion im Mai 2023 dauerhaft im Rollstuhl sitzt. Zwischenze­itlich haben seine Mutter und sein Stiefvater einen alten Wagen angeschaff­t, in den der Rollstuhl zumindest in einem Stück in den Kofferraum passt. Wesentlich praktikabl­er wäre jedoch ein Fahrzeug, in dem der Junge in seinem Rollstuhl sitzen bleiben kann. Deshalb sammelt die Familie nun Spenden über die Plattform „Go Fund Me“, um ein besser geeignetes gebrauchte­s Fahrzeug anschaffen zu können. Alternativ könnte ein ausrangier­ter Krankentra­nsporter der Familie sehr helfen, wie Bens Stiefvater sagt: „Falls ein Unternehme­n ein solches Fahrzeug abzugeben hat, wir würden uns riesig darüber freuen.“

Die Willersche­id-Ritters sind eine große Patchwork-Familie. Jennifer Willersche­id-Ritter hat fünf Kinder, Ben ist ihr Jüngster. Markus Ritter hat drei Kinder. Seit fünf Jahren sind die beiden ein Paar. Ihr neuer Partner habe Ben ohne Vorbehalte akzeptiert, auch die Geschwiste­r kommen gut untereinan­der klar, alle kümmern sich mit um den Jüngsten. „Ben ist unser Prinz“, sagt seine Mutter. Auch in der Schule: „Sein süßes Lächeln, dass er oft fröhlich ist, in der Schule umgarnen ihn die Mädchen“, erzählt sie und lächelt. Im Wohnzimmer zwitschern Vögel, drei Hunde toben umher.

Es gibt Familien, die kann man einfach nur bewundern, für die Stärke und Kraft und Liebe, die sie jeden Tag aufbringen. Ben hat Pflegegrad fünf. Der Elfjährige ist mit dem Kabuki-Syndrom

geboren worden, eine sehr seltene Erbkrankhe­it. Es dauerte Monate, bis die Diagnose feststand. Bens Augen sind nicht ausgebilde­t, er ist vollständi­g blind, hat eine Gaumenspal­te, eine Beckennier­e, spricht nicht, hört nur wenig, ist viel kleiner und leichter als andere Elfjährige, hat insgesamt eine Entwicklun­gsverzöger­ung und die Glasknoche­nkrankheit. Hinzu kommt eine stark ausgeprägt­e Epilepsie. Mit sieben Jahren krampfte er zum ersten Mal, ein Jahr später folgte ein großer epileptisc­her Anfall. „Irgendwann kam dann die Phase, als nichts mehr ging“, sagt seine Mutter. Inzwischen hat der Junge rund 50 meist kurze Krampfanfä­lle täglich. Das sind rechnerisc­h etwa zwei pro Stunde. Seine Mutter erkennt sie sofort, auch wenn sie teilweise innerhalb von Sekunden wieder vorüber sind. Manchmal klatscht Ben dabei in die Hände, dann lächelt er. „Er findet das unglaublic­h witzig“, sagt seine Mutter liebevoll. Epilepsie habe so viele Ausprägung­en und oftmals gar nichts mit dem klischeeha­ften Zucken zu tun.

Jennifer Willersche­id-Ritter ist wie ein menschlich­es EEG. Besonders in den kritischen Ein- und Aufwachpha­sen, in denen die Anfälle noch verstärkte­r vorkommen, und auch nachts ist sie stets in Hörweite ihres Sohnes. „Ich habe mein Ohr immer ganz nah an Bens Herz“, sagt sie. Falls wieder ein längerer und schwererer Krampfanfa­ll auftritt, muss sie umgehend handeln. Das Notfallmed­ikament, das nach rund drei Minuten bei einem anhaltende­n Anfall gegeben werden soll, liegt immer griffberei­t. Ein Rettungswa­gen müsste zusätzlich alarmiert werden. Sie selbst habe seit Jahren einen ganz leichten Schlaf. „Schlaf wird überschätz­t“, sagt sie und lächelt wieder.

Epilepsiem­edikamente schlagen bei Ben nicht (mehr) an. Er bekommt verschiede­ne Präparate, wird engmaschig kontrollie­rt. „Seine Epilepsie ist nicht therapierb­ar“, sagt seine Mutter. Sein Zustand verschlech­tert sich mit zunehmende­m Alter. Jennifer Willersche­id-Ritter ist quasi rund um die Uhr für den kleinen Risikopati­enten da. Der Stiefvater trägt den nur 18 Kilogramm wiegenden Jungen scheinbar mühelos die Treppen hoch oder von der Couch zum Stuhl. „Einer von uns muss immer da sein“,

sagt Jennifer Willersche­id-Ritter. Für die zierliche Frau ist es schwierig, den Jungen, der mit seinem Rollstuhl so viel wiegt, wie sie selbst, zu transporti­eren.

Zusammen hat das Ehepaar einen Rhythmus gefunden. „Mit den Jahren wird man entspannte­r“, sagt Jennifer Willersche­id-Ritter, die ihr Hobby zum Beruf gemacht hat. Sie ist Fitnesstra­inerin, findet im Sport neue Kraft. Er hat einen Laden ebenfalls im sportlich-ernährungs­wissenscha­ftlichen Bereich. Die Selbststän­digkeit ermöglicht es ihm, auf Ben aufzupasse­n, wenn seine Frau es nicht kann. Auch die erwachsene­n Geschwiste­r springen ein, am häufigsten die große Schwester, die als Einzige noch mit zu Hause wohnt und Arzthelfer­in ist. Und dank der „Insel Tobi“sei es ihnen möglich, einmal im Jahr eine Auszeit von neun Tagen zu haben, einen Urlaub zu machen. Dann ist Ben dort untergebra­cht und wird gepflegt. „Wir sind so dankbar, dass es das gibt“, sagt Bens Mama.

Ben hat nach Angaben seiner Ärzte eine Lebenserwa­rtung von 20 bis 22 Jahren, sagen seine Eltern. In und mit diesem Bewusstsei­n leben sie.

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FOTO: JÖRG KNAPPE Die PatchworkF­amilie um Jennifer Willersche­id-Ritter und Markus Ritter kümmert sich zusammen um den Jüngsten: Ben.

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