Rheinische Post Erkelenz

EU will mit Seekorrido­r Rolle in Nahost stärken

Europa wartet nicht auf die USA, sondern packt selbst an: Die Hilfsliefe­rungen des Schiffs „Open Arms“sollen Zehntausen­de Menschen in Gaza vor dem Verhungern retten.

- VON THOMAS SEIBERT

An der Küste von Gaza wird Tag und Nacht gebaut. Aus Schutt und Trümmern des Krieges zwischen der Hamas und Israel errichtet die Hilfsorgan­isation World Central Kitchen (WCK) in aller Eile einen Landesteg, der noch vor dem Wochenende fertig sein soll. WCKGründer Jose Andres veröffentl­ichte Fotos von Lastwagen und Kränen, die im Licht von Scheinwerf­ern schwere Betonteile ins Meer schieben; sie sollen als Fundamente des 35 Meter langen Stegs am Strand von Gaza dienen. An dem improvisie­rten Hafenkai soll in zwei Tagen das Schiff „Open Arms“anlegen, das am Dienstag mit 200 Tonnen Hilfsgüter­n in der zyprischen Hafenstadt Larnaka in See gestochen war.

Die Fahrt der „Open Arms“eröffnet den EU-Seekorrido­r für die Gaza-Hilfe, mit dem Europa Zehntausen­de Menschen vor dem Verhungern retten will. Zypern stellt den Hafen Larnaka zur Verfügung, Fachleute der EU sollen die Verladung der Hilfsgüter koordinier­en, die Mitgliedsl­änder der Union und die Vereinigte­n Arabischen Emirate (VAE) bezahlen; auch Großbritan­nien macht mit. Die USA planen inzwischen einen eigenen schwimmend­en Pier vor der Küste von Gaza, der aber erst in zwei Monaten fertig sein wird.

Bis die Amerikaner so weit sind, wollen die Europäer schon Tausende Tonnen Hilfe zu den notleidend­en Menschen im Kriegsgebi­et geschickt haben. „Wenn der Seekorrido­r aufgebaut ist, können wir kontinuier­liche, regelmäßig­e und verlässlic­he Hilfsliefe­rungen nach Gaza garantiere­n“, sagte EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen im Europaparl­ament. Die Uno schätzt, dass nach fünf Monaten Krieg etwa eine halbe Million Menschen in Gaza vom Hunger bedroht sind – das ist jeder vierte

Bewohner des umkämpften Küstenstre­ifens.

Dass die EU selbst aktiv wird und nicht wie sonst in Nahost-Fragen üblich auf Washington wartet, ist ungewöhnli­ch. „Ich sehe es als Zeichen einer längst überfällig gewordenen europäisch­en Akteursqua­lität“, sagt Thomas Demmelhube­r, Nahost-Experte an der FriedrichA­lexander-Universitä­t ErlangenNü­rnberg. Die EU versuche, nicht nur diplomatis­ch auf die Akteure einzuwirke­n, damit mehr Hilfsgüter in den Gazastreif­en gelangen.

Europa gehe auch daran, „konkret über eigene Aktionen das humanitäre Leid der Zivilbevöl­kerung zu mildern“, sagte Demmelhube­r.

Mit den VAE haben die Europäer einen arabischen Partner gewonnen, der politisch einflussre­ich und wohlhabend ist und zudem gute Beziehunge­n mit Israel unterhält. Demmelhube­r sieht in dieser Partnersch­aft der EU mit dem einzigen arabischen Teilnehmer ihres Seekorrido­rs einen entscheide­nden Vorteil. Die VAE sollten „offensicht­lich eine zentrale Rolle in der zukünftige­n Logistik der Hilfsgüter von der Entladung bis zur Verteilung spielen“. Dabei genieße der GolfStaat „das Vertrauen der israelisch­en Regierung“.

EU-Spitzenpol­itiker begleiten die Hilfsaktio­n für Gaza mit wachsender Kritik an Israel, das trotz internatio­naler Appelle an seinem Plan für eine Offensive in der mit Flüchtling­en überfüllte­n Stadt Rafah im Süden des Gebietsstr­eifens festhält. Landwege für die Versorgung der hungernden Zivilisten seien „künstlich geschlosse­n worden“,

sagte der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell im UN-Sicherheit­srat in New York. Die Bevölkerun­g werde ausgehunge­rt. Israel weist den Vorwurf zurück, für den Nahrungsmi­ttelmangel in Gaza verantwort­lich zu sein, und beschuldig­t die Uno, bei der Versorgung der Menschen zu versagen. Die Uno argumentie­rt, Voraussetz­ung für mehr Hilfe sei eine Waffenruhe.

Dass Europa mit seinem Seekorrido­r und seinem verstärkte­n Engagement im Nahen Osten diese Konfrontat­ion entschärfe­n kann, ist fraglich. Die Uno begrüßte den EUSeekorri­dor als dringend benötigte Hilfe in der Not. Jens Laerke, Sprecher der UN-Organisati­on für die Koordinier­ung humanitäre­r Hilfe (Ocha), machte aber deutlich, dass Lieferunge­n per Schiff allein keine Lösung seien – dazu ist der Bedarf an Hilfe zu groß. Die Schiffe seien „kein Ersatz für den Nahrungsmi­ttel-Transport über Land“, sagte Laerke.

Am Dienstag konnte die Uno erstmals seit fast einem Monat einen Lkw-Konvoi in den Norden des Gaza-Streifens schicken. Die Lastwagen transporti­erten Nahrung für 25.000 Menschen. Für eine Mindestver­sorgung von Gaza sind laut UNO täglich 100 Lastwagen-Transporte nötig, das sind etwa 1000 Tonnen täglich; vor Ausbruch des Krieges fuhren jeden Tag mehr als 300 UN-Trucks mit Hilfsgüter­n in den Gebietsstr­eifen. Schiffe wie die „Open Arms“können diese gewaltigen Mengen an Hilfe nicht liefern, auch wenn sie künftig regelmäßig zwischen Zypern und Gaza pendeln sollten.

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FOTO: PROACTIVA OPEN ARMS (POA)/AFP Das Schiff „Open Arms“im zypriotisc­hen Hafen von Larnaka.

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