Wiedersehen mit Agamemnon
Jetzt beginnt die schönste Zeit auf Kreta: Jasmin und Oleander duften bereits. Vor Kretas Kaffeehäusern sitzen, so scheint es, dieselben Alten wie früher. Wein und Raki, Lamm und Calamari schmecken in jeder Taverne anders gut.
Beinahe hätten wir auch diesmal die Abfahrt nach Kentrochori verpasst, einen schmalen, steilen Weg, der sich gleich hinter Spili von der viel befahrenen Straße zwischen Rethymno im Norden und Aghia Galini im Süden, durch Augen-Weiden voller Anemonen und Ringelblumen schlängelt, 500 Meter hoch in die Bergeinsamkeit. Dort duftet es jetzt wieder intensiv nach Thymian, Jasmin und wildem Majoran.
Kentrochori: knapp hundert Einwohner, eine Kapelle, ein paar Platanen rund um den kleinen Platz in der Dorfmitte – und eine Taverne, die so heißt wie ihr Besitzer: „Agamemnon“. Bis vor ein paar Jahren galt sie als Geheimtipp, ihre Adresse wurde flüsternd und nur an die wahren Kreta-Liebhaber verteilt. Inzwischen sind der Wirt Agamemnon, der wirklich so heißt wie der griechische Held aus dem Troja-Krieg, und seine Frau Urania längst selbst zum Mythos geworden. Sogar eine Speisekarte gibt es inzwischen, aber die braucht hier eigentlich niemand.
Begrüßung und Bestellung laufen nach ewig gültigem Ritual ab: Man umarmt sich, Jassu, mein Freund, wie geht es dir? Man spült den Staub der Straße mit Raki, dem traditionellen Tresterschnaps der Insel, herunter, Jammas, Prost und noch einmal Jammas. Man lässt sich, in diesem Fall von Urania, der himmlischen Köchin, erzählen oder in der Küche zeigen, was heute Morgen geschnibbelt oder vorgeköchelt wurde, und niemand widerspricht, als Agamemnon noch einmal nachschenkt.
Der Blick geht von der Terrasse auf die grüngelben Hügel von gegenüber, auf denen der Ginster leuchtet, als hätte Zeus ihn persönlich ins rechte Licht gerückt: Praller, satter Frühling auf der Insel der Götter; spätestens Anfang April ist der Übergang zum Sommer erreicht. Aber noch streichelt nur sanfte Wärme die Haut, noch flirrt die Luft nicht schon um elf am Vormittag, noch zirpen und singen die männlichen Zikaden, bevor sie demnächst ihre Weibchen mit ohrenbetäubendem Lärm sprachlos machen.
Lebenskunst heißt auf Kreta, zumindest abseits der großen Strandhotels und einiger zugebauter Küsten, etwa in Georgioupoli oder am britisch geprägten Ballermann bei Malia, immer auch geteiltes Glück: aufstehen, mitsingen, mittanzen, wenn ein Nikos, Jannis oder Jorgos zur Laute greift, zur Bouzouki oder ihrer kleinen Schwester, der Baglamadaki. Einer stimmt ein Lied ein, ein fröhlich-populäres wie das von der Maria mit dem gelben Kleid, oft aber auch ein wehmütiges,
das an den Jahrhunderte alten Kampf gegen die Türken erinnert, und in das die Alten mit rauchiger Kehle einfallen.
Noch nicht so alt, aber auch dem Erbe der Väter verpflichtet, ist Manolis Papadakis, Besitzer eines Stadthotels in Kissamos im äußersten Nordwesten, einem idealen Ausgangsort für Abstecher zu Stränden auf den Halbinseln Rodopou und Gramvousa oder in die grünen Hügel im Vorfeld der Lefka Ori, der Weißen Berge.
Diesem Manolis verdanken wir den Hinweis auf seinen Freund Georgios Tzichlakis, den Olivenholz-Zauberer in Polirini, einem Dorf wie aus der Zeit gefallen, westlich von Kissamos in die Berge geduckt. Krautige Macchia, knotige Ölbäume, wilde Orchideen und Kaskaden aus Bougainvillea überwuchern Steinbruchhäuser und die Relikte einer antiken Siedlung. Katzen schnurren herum, Eidechsen wärmen sich auf Steinen aus uralter Zeit.
Begegnungen am Rande von Wasserfällen, neben Schluchten, von denen kein Reiseführer erzählt, auf Plätzen in winzigen Ortschaften: Mit Kyria Spyridoulas zum Beispiel, der resoluten Inhaberin eines Kafenio in Kakodiki, nur zehn Autominuten außerhalb vom beliebten Städtchen Paleorchora und doch weltenfern von jeglichem touristischen Getriebe. Klassische Kaffeehäuser wie ihres, einst als Postamt oder Nachrichtenbörse unverzichtbar, werden aber leider immer weniger; die Stammgäste sterben weg, die jungen Leute sind ausgewandert, nach Athen, Australien oder nach Deutschland.
Irgendwann, irgendwo findet jeder seinen Philosophen des Alltags, einen liebenswerten Chaoten, wie etwa Efthis Koukoutakis, den Kneipenwirt aus Azogires, einem Dorf, das wir in der Wildnis oberhalb von Paleochora entdeckt haben. Efthis sieht sich als letzten Rebellen auf Kreta; er hat lange in Amerika gelebt und ist zurückgekehrt um einen Heimatverein zu gründen und alte Trachten und Bräuche wieder einzuführen. Efthis ist, wie die meisten Kreter, ein Optimist: „Irgendwann werden die Jungen zurückkommen und das Kafenio im Dorf vermissen – oder wieder eröffnen“, glaubt er, „die Hedonisten von heute sind die Nostalgiker von morgen“.