Rheinische Post Erkelenz

Wiedersehe­n mit Agamemnon

Jetzt beginnt die schönste Zeit auf Kreta: Jasmin und Oleander duften bereits. Vor Kretas Kaffeehäus­ern sitzen, so scheint es, dieselben Alten wie früher. Wein und Raki, Lamm und Calamari schmecken in jeder Taverne anders gut.

- VON BERND SCHILLER

Beinahe hätten wir auch diesmal die Abfahrt nach Kentrochor­i verpasst, einen schmalen, steilen Weg, der sich gleich hinter Spili von der viel befahrenen Straße zwischen Rethymno im Norden und Aghia Galini im Süden, durch Augen-Weiden voller Anemonen und Ringelblum­en schlängelt, 500 Meter hoch in die Bergeinsam­keit. Dort duftet es jetzt wieder intensiv nach Thymian, Jasmin und wildem Majoran.

Kentrochor­i: knapp hundert Einwohner, eine Kapelle, ein paar Platanen rund um den kleinen Platz in der Dorfmitte – und eine Taverne, die so heißt wie ihr Besitzer: „Agamemnon“. Bis vor ein paar Jahren galt sie als Geheimtipp, ihre Adresse wurde flüsternd und nur an die wahren Kreta-Liebhaber verteilt. Inzwischen sind der Wirt Agamemnon, der wirklich so heißt wie der griechisch­e Held aus dem Troja-Krieg, und seine Frau Urania längst selbst zum Mythos geworden. Sogar eine Speisekart­e gibt es inzwischen, aber die braucht hier eigentlich niemand.

Begrüßung und Bestellung laufen nach ewig gültigem Ritual ab: Man umarmt sich, Jassu, mein Freund, wie geht es dir? Man spült den Staub der Straße mit Raki, dem traditione­llen Trestersch­naps der Insel, herunter, Jammas, Prost und noch einmal Jammas. Man lässt sich, in diesem Fall von Urania, der himmlische­n Köchin, erzählen oder in der Küche zeigen, was heute Morgen geschnibbe­lt oder vorgeköche­lt wurde, und niemand widerspric­ht, als Agamemnon noch einmal nachschenk­t.

Der Blick geht von der Terrasse auf die grüngelben Hügel von gegenüber, auf denen der Ginster leuchtet, als hätte Zeus ihn persönlich ins rechte Licht gerückt: Praller, satter Frühling auf der Insel der Götter; spätestens Anfang April ist der Übergang zum Sommer erreicht. Aber noch streichelt nur sanfte Wärme die Haut, noch flirrt die Luft nicht schon um elf am Vormittag, noch zirpen und singen die männlichen Zikaden, bevor sie demnächst ihre Weibchen mit ohrenbetäu­bendem Lärm sprachlos machen.

Lebenskuns­t heißt auf Kreta, zumindest abseits der großen Strandhote­ls und einiger zugebauter Küsten, etwa in Georgioupo­li oder am britisch geprägten Ballermann bei Malia, immer auch geteiltes Glück: aufstehen, mitsingen, mittanzen, wenn ein Nikos, Jannis oder Jorgos zur Laute greift, zur Bouzouki oder ihrer kleinen Schwester, der Baglamadak­i. Einer stimmt ein Lied ein, ein fröhlich-populäres wie das von der Maria mit dem gelben Kleid, oft aber auch ein wehmütiges,

das an den Jahrhunder­te alten Kampf gegen die Türken erinnert, und in das die Alten mit rauchiger Kehle einfallen.

Noch nicht so alt, aber auch dem Erbe der Väter verpflicht­et, ist Manolis Papadakis, Besitzer eines Stadthotel­s in Kissamos im äußersten Nordwesten, einem idealen Ausgangsor­t für Abstecher zu Stränden auf den Halbinseln Rodopou und Gramvousa oder in die grünen Hügel im Vorfeld der Lefka Ori, der Weißen Berge.

Diesem Manolis verdanken wir den Hinweis auf seinen Freund Georgios Tzichlakis, den Olivenholz-Zauberer in Polirini, einem Dorf wie aus der Zeit gefallen, westlich von Kissamos in die Berge geduckt. Krautige Macchia, knotige Ölbäume, wilde Orchideen und Kaskaden aus Bougainvil­lea überwucher­n Steinbruch­häuser und die Relikte einer antiken Siedlung. Katzen schnurren herum, Eidechsen wärmen sich auf Steinen aus uralter Zeit.

Begegnunge­n am Rande von Wasserfäll­en, neben Schluchten, von denen kein Reiseführe­r erzählt, auf Plätzen in winzigen Ortschafte­n: Mit Kyria Spyridoula­s zum Beispiel, der resoluten Inhaberin eines Kafenio in Kakodiki, nur zehn Autominute­n außerhalb vom beliebten Städtchen Paleorchor­a und doch weltenfern von jeglichem touristisc­hen Getriebe. Klassische Kaffeehäus­er wie ihres, einst als Postamt oder Nachrichte­nbörse unverzicht­bar, werden aber leider immer weniger; die Stammgäste sterben weg, die jungen Leute sind ausgewande­rt, nach Athen, Australien oder nach Deutschlan­d.

Irgendwann, irgendwo findet jeder seinen Philosophe­n des Alltags, einen liebenswer­ten Chaoten, wie etwa Efthis Koukoutaki­s, den Kneipenwir­t aus Azogires, einem Dorf, das wir in der Wildnis oberhalb von Paleochora entdeckt haben. Efthis sieht sich als letzten Rebellen auf Kreta; er hat lange in Amerika gelebt und ist zurückgeke­hrt um einen Heimatvere­in zu gründen und alte Trachten und Bräuche wieder einzuführe­n. Efthis ist, wie die meisten Kreter, ein Optimist: „Irgendwann werden die Jungen zurückkomm­en und das Kafenio im Dorf vermissen – oder wieder eröffnen“, glaubt er, „die Hedonisten von heute sind die Nostalgike­r von morgen“.

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FOTOS: BERND SCHILLER Noch ist es ruhig am Triopetra Strand bei Aghia Fotini an der Südküste Kretas um diese Jahreszeit.
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Der Sound von Kreta drückt Liebe, Leidenscha­ft und den Freiheitsw­illen der Einheimisc­hen aus.
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In den Bergdörfen haben sich die klassische­n Treffpunkt­e Ouzeria und Kafenion erhalten.

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