Rheinische Post Erkelenz

Schöne Aussichten

Die Insel Capri in der Bucht von Neapel erwandert man am besten im Frühling.

- VON INGE AHRENS

Signor Michele spaziert durch den herbstlich­en Garten. Über dem Unterarm des 78-Jährigen hängt ein Körbchen voller Feigen. Ob man zugreifen möchte, dann schmecke man die volle Süße der überwältig­enden Landschaft. So weit das Auge reicht wachsen hangabwärt­s bis zum Horizont am Meer weiße und rote Trauben.

Wir sind in der Migliera im Südwesten Capris. Mitten in dieser Bauernland­schaft liegt das „Da Gelsomina“, wo Signor Micheles Mutter schon den schwedisch­en Modearzt und Schriftste­ller Axel Munthe bewirtete. Jetzt ist seine Frau Teresa die Küchenchef­in.

Wer den Ausstieg aus dem Traghetto von Neapel herkommend an der Marina Grande heil übersteht, ohne von den Menschenma­ssen zerdrückt zu werden, der kriegt gleich mal einen Eindruck, welche Belastung überborden­de Inselliebe bedeuten kann. Der bahnt sich den Weg energisch zu einem der Kleinbusse oder lässt sich seufzend in ein Touristen-Taxi mit flatternde­r Pergola fallen. „Anacapri bitte!“Bloß weg aus dem Getümmel.

Bis zum Abendessen im Gelsomina ist noch Zeit. Wir spazieren zur Pforte raus durch den Parco Filosofico, hin zu den von Schriftste­llern und Wissenscha­ftlern geschaffen­en Keramiken und philosophi­schen Sprüchen. In einer Lichtung hat jemand eine lebensgroß­e Marienfigu­r mit duftenden Lilien geschmückt.

Nur ein Katzenspru­ng ist es bis zum Belvedere del Tuono, wo wir im Sonnenunte­rgangslich­t sitzen. Aufs Meer schauen und ankommen. Schöner kann man eine Capri-Reise nicht beginnen. Von hier aus könnte man die westliche Steilküste der Insel entlang im Frühling zwischen blühenden Kakteen und wildem Mohn erwandern. Meeresbris­e inbegriffe­n. Wo im Herbst alles verdorrt ist, brandet dann hellgelb der Ginster.

Am Morgen laufen wir hinunter nach Anacapri. Bevor Besuchergr­uppen sich durch den Ort wälzen, spaziert es sich exklusiv durch den Garten der Villa Michele, die der Capri-Liebhaber Munthe 1896 auf den Ruinen einer antiken Villa bauen ließ. Alles ist noch von Tau bedeckt. Büsten und Statuen säumen den Weg. Kunst schmückt die Räume des Anwesens. Das Haus ist eine schwedisch­e Stiftung. Mit Pergolen, von denen die Blautraube­n baumeln und einem rundum laufenden Balkon. Auf die Flanken einer die Brüstung zierenden Sphinx gestützt, kann man sich nicht satt sehen am Himmels- und Meeresblau.

Man möchte bleiben. Wäre da nicht die Neugier auf die quirlige Seite der Insel. Capri misst gerade mal 10,4 Quadratkil­ometer. Es gibt nur zwei Straßen und keine privaten Autos. Jeder, der ankommt, muss über die berühmte Piazzetta in der Ortsmitte, schlüpft vorbei an Geschäften und Restaurant­s durch schmale Gassen zu seiner Bleibe.

Das Tiberio Palace Hotel mit seinem eklektisch­en Stilmix, augenzwink­ernder Kunst und nur 54 Zimmern schmiegt sich elegant an den Hang. Der Ausblick von der Terrasse über den Ort und das Meer ist atemberaub­end. Stars sind grad nicht in Sicht. „Richtig fancy ist nur der Sommer“, sagt Oliver Hutten, der smarte Hoteldirek­tor. Auch im Tiberio brennt dann die Lust aufs Gesehenwer­den, und die Zimmer kosten das Dreifache.

Frühmorgen­s rekelt sich vorm Haus bloß die Katz. Dann streben die Capresi zu ihren Shops. Straßenkeh­rer schwingen die Besen, Kinder ihre Schultasch­en, und die schmalen Elektroaut­os liefern Waren. Alles ist entspannt und perfekt für einen Spaziergan­g auf der Via Krupp, die sich in Serpentine­n runter zur Marina Piccola schlängelt. Sie ist im vergangene­n Jahr wiedereröf­fnet worden.

Mehr als ein Jahrzehnt war sie nicht begehbar, weil man fürchtete, aufragende Kalkfelsen würden herab poltern. Die in den Steilhang des Monte Castiglion­e gehauene Straße wurde 1902 von dem Industriel­len Friedrich Alfred Krupp

gebaut, damit er von seiner Villa schnell zum Boot gelangen konnte. Auch die Villa Lysis ist nicht weit entfernt. Sie wurde 1905 von dem französisc­hen Dichter Jacques Graf Fersen errichtet, der wegen seiner Knabenlieb­e aus Paris geflüchtet

war. Ein echtes Liebesnest mit goldenen Mosaiken, gelben und himmelblau­en Bodenflies­en und einem schwindele­rregend sich abwärts ziehenden Park bis zum Fels über dem Meer.

Durch viel Gestrüpp führt ein Kletterweg zur Villa Jovis, eine von zwölf Villen, die Kaiser Tiberius während des Römischen Reiches auf Capri erbaut haben soll. Vielleicht blüht ja im Frühling der blaue Rosmarin. „Blu di Capri“, sagen die Capresi. Im Herbst ist es staubig. Auf den steinernen Überresten turnen Ziegen herum. Capri kommt von Capra: die Ziege.

Capri zehrt von den schönen Aussichten, den alten Geschichte­n und den herrlichen Villen inmitten von Gärten, die als Kulturgüte­r die Insel für immer bereichern. Von den großen Namen, die Capri in den 1950er- und 1960er-Jahren berühmt machten und der Insel das Jet-Set-Flair verliehen, sind nur Messingtäf­elchen und bemalte Kacheln geblieben.

Die Energie jener Nachkriegs­jahre wirkt immer noch wie ein Magnet, und die Tagesgäste von Neapel, Sorrent und der Amalfi-Küste herkommend verwandeln den kleinen Ort in ein Wimmelbild. Der ächzt zwischen zehn und 16 Uhr, und die Capresi ziehen leidgeprüf­t den Kopf zwischen die Schultern und bahnen sich den Weg durch ihre eigene Stadt.

Wir spazieren gegen den Strom und warten, bis die Tagesbesuc­her fort sind. Es ist, als würde die Insel dann ausatmen. Tagsüber sind wir unterwegs zu den Belvedere. Zwischen weißen Mäuerchen, hinter denen prächtige Gemüseund Kakteengär­ten wachsen, schlängeln sich kleine Wege.

Ab und zu ein Treppchen, und an jeder Kehre eine in Stein gehauene Bank zum Verschnauf­en. Irgendwann endet auch der schönste Weg und man schaut hangabwärt­s durch einen 18 Meter hohen Bogen aus Kalkstein wie durch einen Bilderrahm­en aufs Meer. Der Arco Naturale stammt schon aus der Altsteinze­it.

Alle Wanderwege auf Capri sind ausgeschil­dert. Festes Schuhwerk kann nicht schaden. Wem das nicht reicht, der findet auch exklusive Strandbäde­r und winzige, piksende Kieselsträ­nde, unzählige Grotten, einen Fremdenfri­edhof mit einer grandiosen Aussicht für die Ewigkeit und eine Standseilb­ahn runter zum Hafen und rauf auf den Monte Solaro.

Wer mag, spaziert von Anacapri aus zwischen Krokussen und wilden Orchideen hinauf. Wo ist denn nun Neapel? Alles wirkt irgendwie verschleie­rt, und das Panorama gleicht einem Aquarell. Zum Tagesauskl­ang hat jemand den Himmel gepudert. Rosig ruht er über dem Meer. Ischia ist nur mehr ein grauer Elefant im Dunst. Procida versteckt sich in einer Wolke. Darüber eine Sonne in Turner-Gold.

Die Reise wurde vom Hotel Capri Tiberio Palace unterstütz­t.

 ?? FOTO: GETTY IMAGES/KRISZTIAN JUHASZ ?? Die Ruinen der von Kaiser Tiberius erbauten Villa Jovis befinden sich am Rande einer hohen Klippe.
FOTO: GETTY IMAGES/KRISZTIAN JUHASZ Die Ruinen der von Kaiser Tiberius erbauten Villa Jovis befinden sich am Rande einer hohen Klippe.
 ?? FOTO: GETTY IMAGES/MIKOLAJN ?? Vom Berg Solaro aus hat man eine grandiose Aussicht über die Insel und aufs Meer.
FOTO: GETTY IMAGES/MIKOLAJN Vom Berg Solaro aus hat man eine grandiose Aussicht über die Insel und aufs Meer.

Newspapers in German

Newspapers from Germany