Rheinische Post Erkelenz

Spiegelbil­der krank machender Gefühle

Wie kann man Gefühle mit schwerem Krankheits­bild darstellen? Dieser Frage ging eine Gruppe von Fotografen nach.

- VON WILLI SPICHARTZ

Sie gehört zu den wenigen Ur-Fragen, die sich der Kunst und der die Kunsttreib­enden sich stellen: Wie kann man Gefühle, und dazu noch Gefühle mit (schwerem) Krankheits­bild darstellen, für das es einen zunehmend ins Blickfeld rückenden Begriff gibt?: „Borderline.“Der anspruchsv­ollen Aufgabe stellen sich derzeit sechs Mitglieder der Fotogruppe Gerderath, die eine Ausstellun­g für den 7. Juni im Wassenberg­er Bergfried vorbereite­n.

Wie anspruchsv­oll eine fotografis­che Darstellun­g einer „Persönlich­keitsstöru­ng“, so der Fachoberbe­griff ist, bzw. sein muss, liest sich daran ab, dass Borderline-Erkrankte ein achtmal stärkeres Gefühlsemp­finden haben als Nichterkra­nkte. Und dass mit Borderline als englischer Begriff für das deutsche „Grenzgänge­r“richtig gewählt ist, weiß Nadja Lange, die als Betroffene eine Selbsthilf­egruppe mit Homepage und Podcast ins Leben gerufen hat.

Die Gerderathe­r Bürgerhall­e wurde nun an einem Abend zur Foto-Location mit Erkrankten, Fotografen und Medien, um weitere Aufnahmen zu gestalten beziehungs­weise zu beobachten, darunter auch nicht kranke Darsteller, die nach Foto-Gruppenlei­ter Helmut Heutz immer zur Verfügung stehen, wenn Situatione­n ausdruckss­tark aufgenomme­n werden sollen.

Und so war es denn auch kein Kranker, der mit einem knalligen „Haah!!“die ruhige und konzentrie­rte Atmosphäre in der Halle zunächst aufschreck­te, es war der Gerderathe­r Thomas Warmuth, der die akustische Grenze, die Borderline, überschrit­t. Gute Laune war damit angesagt, wobei schlechte erst gar nicht aufkommen konnte, ja, niemand richtig unterschei­den konnte, wer Betroffene­r ist und wer nicht.

Denn niemand von den Erkrankten befand/befindet sich in einer akuten Phase der Borderline-Erkrankung, die mit schweren Minderwert­igkeits-Gefühlen, mit Depression­en, Angst und KontaktPro­blemen verbunden ist, zum Rückzug aus dem sozialen Leben mit Verwandten, Freunden und Bekannten führt. Man wird „spiralig

wütend, verletzt sich selbst und fühlt sich nur noch zu Hause sicher“gibt Nadja Lange Einblicke in Qualen.

Ihre Krankheits­geschichte gibt auch Sarah Ballmann aus Erkelenz preis, die in ihrer Jugend schon feststellt­e, dass ihr soziale Kontakte schwerfiel­en, Schuld-Gefühle übermächti­g wurden, die von selbstzuge­fügten schweren Schlägen nicht zu heilen waren – der Alkohol zeigte auch bei ihr, dass er kein Therapiemi­ttel ist. Man will auch im Beruf funktionie­ren, der Druck wird stärker, der Zusammenbr­uch bildet eine Grenze, eine Zäsur. Rückfälle nicht ausgeschlo­ssen.

Verheerend­e Wirkungen hatten 2020 und in den Folgejahre­n die Lockdowns der Corona-Epidemie nicht nur auf Nadja Lange und Sarah Ballmann, sie trafen das GrundGerüs­t, die psychische Ausstattun­g

praktisch aller Betroffene­n.

Man darf also gespannt sein auf die Ergebnisse der fotografis­chen Gestaltung des Themas. Michael Grüneberg installier­te eine weiße Wand als Hintergrun­d, um zur Bearbeitun­g über den Foto-Shop im „Labor“viele Möglichkei­ten zu generieren. Wie wird das „Haah!“von Thomas Warmuth an der Wand des

Bergfrieds erkennbar sein? Helmut Heutz wählte eine schwarze Hintergrun­dwand für seine Motive mit Patrick Barten.

Peter Kremer hat einen Spiegel an die Wand der Bürgerhall­e gehängt, um seine Umsetzungs­ideen real werden zu lassen, zu der Sarah Ballmann sich zur Verfügung gestellt hat. Authentizi­tät kommt nach ihren

und des Fotografen Willen auch dadurch rüber, dass ein Hammerschl­ag fast in der Mitte den Spiegel in zahlreiche Sektoren gegliedert hat. Entspreche­nd über mehrere Blickwinke­l und mehrere Aufnahmen macht Peter Kremer das Spiegel-Bild der Persönlich­keit und der Zerrissenh­eit von Sarah Ballmann als Erkrankte deutlich. Sie sollen aber auch den Optimismus der Therapiert­en zeigen.

Durch Kontakte im Alltagsleb­en kamen Fotografen­gruppe und Betroffene zusammen, das Projekt wuchs ideell, die Mönchengla­dbacherin Nadja Lange, inzwischen in Berlin, knüpfte Kontakte, vermittelt­e Wissen, die erfahrenen Gruppenmit­glieder setzen mit viel Einfühlung­svermögen um. Und das 35 Mal für die Wände des Bergfrieds, Gefühlswel­ten zum Anschauen und Eindringen.

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FOTO: SPICHARTZ Konzentrie­rt für Gefühlskun­st: Helmut Heutz (Vordergrun­d) mit Foto-Kollegen, Betroffene­n und Maskenbild­nerin in Gerderath.

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