„Junge Mannschaft“darf keine Ausrede sein
Rainer Bonhof will „die Fohlenphilosophie wieder mehr mit Leben füllen“bei Borussia. In dieser Saison hilft der Verweis auf die „junge Mannschaft“zu oft nicht weiter, findet unser Autor. Warum es sogar besser wäre, die Verjüngung noch mehr zu forcieren.
Bis zum Alter von einem Jahr ist ein Pferd ein Fohlen. Rocco Reitz war nachweislich schon in diesem Alter Mitglied bei Borussia Mönchengladbach, in der laufenden Saison, die geprägt ist vom großen Kaderumbruch, verkörpert er mit 21 Jahren die erklärte Philosophie des Vereins, auf junge Spieler zu setzen: Fohlenelf, Fohlenwelt, Fohlenstall, Fohlenplatz, Fohlencampus – es ist kaum möglich, durch den BorussiaPark zu laufen, ohne mit dem Begriff konfrontiert zu werden.
Nun ist Borussia kaum vorzuwerfen, dass die Erfolgsstory um Reitz zu kurz gekommen sei. Das Eigengewächs ist inzwischen Stammspieler in der deutschen U21, hat als einziger Profi neben Franck Honorat jedes Bundesligaspiel gemacht und zweimal seinen Vertrag verlängert – Reitz ist das Vorzeigefohlen. Doch am anderen Ende des Spektrums waren die Verantwortlichen in Gladbach allzu oft weit davon entfernt, die Verjüngung der Mannschaft angemessen zu zelebrieren.
Nach dem 1:1 beim 1. FC Heidenheim lobte Trainer Gerardo Seoane zuletzt die Reaktion auf die Blamage im DFB-Pokal beim 1. FC Saarbrücken vier Tage zuvor. Wie sie gekämpft, solidarisch verteidigt und phasenweise auch gut nach vorne gespielt habe, sei „bemerkenswert für diese junge Mannschaft“gewesen.
Dabei war die Startelf in Heidenheim die zweitälteste bei Borussia in dieser Saison, in Saarbrücken war die fünftälteste gescheitert. Zwischen dem Durchschnittsalter und den Ergebnissen lässt sich keine Korrelation erkennen, geschweige denn ein kausaler Zusammenhang. Die fünf jüngsten Teams feierten drei der lediglich neun Siege in Pflichtspielen, die fünf ältesten nur einen.
Borussia hat sich in lobenswerter Weise verjüngt, das ist nicht abzustreiten. Unter Marco Rose, Adi Hütter und Daniel Farke gehörte die durchschnittliche Elf auf dem Platz oft zu den vier, fünf ältesten der Liga, unter Seoane ist nur der VfB Stuttgart mit 25,4 Jahren noch einen Tick jünger als Gladbach (25,6).
Rein statistisch gesehen haben die Schwaben viel weniger Gelegenheiten, nach Misserfolgen auf das Alter ihrer Mannschaft zu verweisen. Dass sie es ohnehin nicht tun, könnte aber auch daran liegen, dass sich der VfB mitunter gar nicht so jung fühlen dürfte, wie er ist: Die Stammspieler sind 21 bis 28 Jahre alt, keine Teenager und keine Methusalems.
Auch Borussia hat sich nicht ausschließlich explizit verjüngt, sie hat
vor allem den Prozess der Überalterung gestoppt. In Yann Sommer, Jonas Hofmann und Lars Stindl sind drei Ü30-Säulen weggebrochen, Spieler wie Christoph Kramer, inzwischen 33 und vergangene Saison noch gesetzt, sind in den Hintergrund gerückt.
In Luca Netz, Joe Scally, Manu Koné und Reitz kommen nur vier U23-Profis auf nennenswert große Spielanteile, dafür ist Alassane Plea der einzige verbliebene Vertreter der Ü30-Fraktion. Das Gerüst bewegt sich im Spektrum von 25 bis 28 Jahren: Max Wöber, Nico Elvedi, Ko Itakura, Marvin Friedrich, Julian Weigl,
Florian Neuhaus, Franck Honorat, Robin Hack, Jordan Siebatcheu, Moritz Nicolas. Nicht alt ist in der Bundesliga schnell besonders jung.
„Wir würden diese Fohlenphilosophie gerne wieder mehr mit Leben füllen, sodass sie richtig greift“, sagte der neue Präsident Rainer Bonhof im Interview mit unserer Redaktion. Borussia hätte sich ein wenig vom Weg abgewandt, aber sich „zum Glück“wieder besonnen. Sportchef Roland Virkus rief 2022 die Rückkehr zum „Drei-Säulen-Modell“aus, zwei davon sind ausdrücklich mit jungen Spielern verknüpft – die externen Top-Talente und die eigenen, die
bis auf Reitz aber kaum zum Zug kommen.
Es überrascht kaum, dass die allermeisten der 50 ältesten Startformationen in der tristen Zeit von 1996 bis 2006 aufliefen. Die besten und erfrischendsten Borussias der Neuzeit lebten von einer gewissen Jugendlichkeit. Lucien Favre bot zeitweise bis zu vier Stammkräfte aus dem eigenen Nachwuchs auf, sein Nachfolger André Schubert schaffte die Wende mit Teenagern wie Mo Dahoud und Andreas Christensen sowie einem 23-jährigen Kapitän namens Granit Xhaka. Unter Seoane wäre dem Verein, nachdem der Anfang gemacht ist, noch mehr davon zu wünschen. Top-Talente wie Kilian Sauck, Niklas Swider und Winsley Boteli müssten sich spätestens in der Sommer-Vorbereitung im Profitraining zeigen dürfen.
In der Jetztzeit sollten sich die Borussen vor allem vornehmen, den Verweis auf die „junge Mannschaft“zu unterlassen, weil er schnell den Klang einer Ausrede erhält. Beim 1:1 in Mainz bekam in den ersten 45 Minuten die älteste Startelf der Saison kein Bein auf den Boden. In seinem 137. Profieinsatz war Koné der einzige U23-Vertreter. Und als Weigl nach dem 1:2 gegen Eintracht Frankfurt kurz vor Weihnachten sauer war über die Gegentore in der Nachspielzeit, sagte er: „Klar, wir stecken im Umbruch und haben viele junge Spieler. Trotzdem müssen wir eine Entwicklung sehen, so ein Ding auch mal wegzuverteidigen.“
Bei der Analyse gerieten Fabio Chiarodia und Netz in den Fokus am Ende der Fehlerkette, die unter anderem Weigl und Kramer begonnen hatten und die Wöber mit seiner unnötigen Gelb-Roten Karten maßgeblich initiierte. Es ist keinerlei altersbedingte Häufung von Patzern zu beobachten bei Borussia. Eher stellt sich die Frage, wenn Virkus auf fehlende „fünf bis zehn Prozent“in der Entwicklung verweist, wann gestandene Spieler wie Weigl, Elvedi oder Neuhaus sie denn draufpacken wollen.
Für den Endspurt ist kein konkretes Punkteziel ausgegeben, der zehnte Platz der Vorsaison soll jedoch anvisiert werden. Und darüber hinaus wäre es ein wünschenswertes Vorhaben, nicht mehr in einem negativen Kontext auf die verjüngte Mannschaft zu verweisen. Eher kann und sollte Borussia diesen Weg noch mehr forcieren, denn Geschichten wie die von Reitz liefern nicht nur den Nährboden für neue Erfolge. Sie stärken auch die Identifikation der Fans und stabilisieren den Geduldsfaden.