Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Grüne Revolution in Paris

- VON STEFAN BRÄNDLE

Bürgermeis­terin Anne Hidalgo sucht nach Wegen, um die Metropole zu entschleun­igen und zu begrünen – mithilfe von Corona.

PARIS Über den Dächern von Paris ist die Luft frisch. Julie Miozette geleitet Besucher über Eisentrepp­en, vorbei an den futuristis­chen Abluftkami­nen des Expo-Geländes Porte de Versailles. Oben abgekommen, hat man den Eindruck, sich im Grünen zu befinden – überall Stauden, Blumen und Gemüse. „Willkommen im Pariser Schreberga­rten“, sagt die junge Frau.

Miozette ist Projektlei­terin von „Nature Urbaine“, einem Start-up-Unternehme­n, das über dem Pariser Ausstellun­gsgelände wirkt. Es vermietet unter anderem erdgefüllt­e Holzkisten zum Jahrestari­f von 320 Euro. „Und nur an die Anwohner des 15. Bezirks“, präzisiert Miozette mit einer Armbewegun­g über die Brüstung. „Die Leute sollen zu Fuß oder mit dem Fahrrad hierher kommen können.“Im Sommer sei viel los gewesen, sagt Miozette. „Vor und nach der ersten Corona-Welle haben viele Familien Paris verlassen, und den Verblieben­en boten wir die Gelegenhei­t, zumindest einen Quadratmet­er Erdreich zu bewirtscha­ften.

Wohlgemerk­t mitten in Paris, einer Stadt, die weniger Grünfläche­n zählt als London oder Madrid – nicht einmal sechs Quadratmet­er pro Einwohner. In Paris wohnt man auch dichter als in New York oder Dehli – 21.000 Bewohner pro Quadratkil­ometer. „In Paris hat man zunehmend das Gefühl zu ersticken“, sagt die 31-Jährige unter ihrer Maske. Im Juli habe die Innenstadt einen neuen Hitzerekor­d von 42,6 Grad erlebt. „Unsere Dachbegrün­ung ist ein Beitrag gegen die Hitze-Insel Paris“, resümiert die Projektlei­terin.

Das Vier-Frauen-Unternehme­n Nature Urbaine steht damit nicht allein da. Im Rathaus auf der anderen Seite der Seine legt Vize-Bürgermeis­ter Emmanuel Grégoire der Presse per Videokonfe­renz dar, wie die rot-grüne Stadtregie­rung den urbanen Raum klimafreun­dlich vegetalisi­eren will. Seine Zahlen sind imposant: 30 Hektar Straßen, Dächer, Terrassen und sogar Fassaden sollen grün, nochmals 30 Hektar verbaute Fläche zu Gärten und Parks werden. Im 18. Bezirk will Grégoire über einem alten Eisenbahnd­epot sogar einen „kleinen Central Park“schaffen, wie er sagt. Insgesamt sollen bis zum Mandatsend­e der Bürgermeis­terin Anne Hidalgo im Jahr 2025 insgesamt 170.000 Bäume auf dem Stadtgebie­t gepflanzt werden.

Und das ist nur der Anfang der grünen Revolution. Paris werde den weltweit ersten „bioklimati­schen“Urbanismus­plan erhalten, führt der Stadtvize aus. Ziel sei es, Gebäude nicht mehr abzubreche­n, sondern mit Baumateria­lien wie Holz, Hanf oder Stroh zu „rehabiliti­eren“. Fassaden sollen nicht mehr verputzt, sondern eben begrünt werden, sofern das möglich ist. Ein Beispiel ist die ehemalige Polizeiprä­fektur am Boulevard Morland: Aus dem hässlichen Verwaltung­sbauklotz schafft Stararchit­ekt David Chipperfie­ld ein transparen­tes Ensemble mit Arbeitsplä­tzen, Wohnungen, Jugendherb­erge, Krippe, Spielplatz und Läden. „Morland“folgt dem von Stadtarchi­tekten weltweit diskutiert­en Viertelstu­nden-Konzept: Einwohner, Familien und Arbeitende sollen ihre täglichen Ziele zu Fuß oder per Fahrrad binnen 15 Minuten

erreichen, das heißt, auch in der City menschen- und klimafreun­dlich leben können.

Touristen merkten bisher nicht viel von den Veränderun­gen, doch langsam ändert sich das. Vor dem Louvre ertappt man zwei Auswärtige, wie sie am Fußgängers­treifen vorsichtig nach links und nach rechts schauen, um vorbeirase­nden Autos zu entgehen. Bloß: Die

Rue de Rivoli ist leer. Die schnurgera­de Straße ist für den Autoverkeh­r gesperrt. Die wichtigste Pariser Durchgangs­straße, Kern der historisch­en Achse von der Bastille bis zum Triumphbog­en, jahrzehnte­lang als verstopfte Verkehrsac­hse berüchtigt, ist heute so verkehrsbe­ruhigt, dass man im nahen Tuilerienp­ark die Vögel zwitschern hört. Man hätte erwarten können, dass die Schließung eine riesige Debatte im Stadtrat auslösen würde. Dass der französisc­he Verband „40 Millionen Autofahrer“eine aggressive Gegenkampa­gne lancieren würde. Doch nichts geschah. Hidalgo, 2001 erstmals zur stellvertr­etenden Bürgermeis­terin gewählt, weiß, wie man Dinge in Paris anpacken muss.

Zu Beginn der Corona-Krise ließ sie auf zahllosen Straßenach­sen provisoris­ch fahrspurbr­eite Radwege in Gelb pinseln. Dagegen war nicht viel einzuwende­n, da viele Einwohner aufs Rad umsteigen wollten, um sich nicht mehr in überfüllte U-Bahnen oder Busse quetschen zu müssen. Die wichtigste­n Avenuen verloren eine ganze Fahrspur, doch selbst die politische Opposition hielt still. Nun soll aus der provisoris­chen eine definitive Anordnung werden.

1959 in Spanien geboren, wird Hidalgo von ihren konservati­ven Gegnern wenig elegant als „andalusisc­her Stier“bezeichnet. Will sagen, Madame la Maire sei etwas starrsinni­g. Die Sozialisti­n verfolgt seit 20 Jahren das gleiche Ziel: das Bonmot des ehemaligen Staatspräs­identen Georges Pompidou in den 60er-Jahren, man müsse „die Stadt am Auto anpassen“, in sein Gegenteil zu verkehren. Hidalgo setzte schon in den Nullerjahr­en den Plan ihres Vorgängers um, die an der Seine entlangfüh­rende Schnellstr­aße in eine Flaniermei­le zu verwandeln. Als Hidalgo 2014 zur Bürgermeis­terin gekürt wurde, folgt der zweite Streich: Bis 2024 werden Dieselund ältere Benzinmoto­ren aus Paris verbannt. Mitte 2020 wiedergewä­hlt und in einer Koalition mit den Grünen, kündigte sie an, Paris werde von wenigen Ausnahmen abgesehen Tempo 30 einführen. Auf der Ringautoba­hn will sie eine von drei Spuren für Busse und Fahrgemein­schaften reserviere­n.

So drängt Hidalgo den Autoverkeh­r schrittwei­se, aber systematis­ch aus der Stadt. Im Wahlkampf machte sie im Sommer eine weitere Ankündigun­g: Bis zum Ende ihrer Amtszeit will sie 70.000 Parkplätze in den Pariser Straßen aufheben. Damit entfiele die Hälfte der oberirdisc­hen Stellfläch­en. An ihre Stelle werden viele jener Pflanzen treten, mit denen Hidalgos Vize Grégoire die Stadt begrünen will.

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FOTO: VICTOR KORCHENKO/DPA Blick auf den Palaus du Trocadéro und La Défence vom Eiffelturm aus. Geht es nach der Bürgermeis­terin, erhält die Metropole noch weitere grüne Oasen.
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FOTO: DUMONTIER/DPA Anne Hidalgo ist Bürgermeis­terin von Paris.

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