Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Lieferunge­n des Impfstoffs in die EU verzögern sich

Die Hauptgesch­äftsführer­in des Hotelund Gaststätte­nverbandes über Folgen des Lockdowns, zu bürokratis­che Staatshilf­en und Fehler der Politik.

- GEORG WINTERS FÜHRTE DAS GESPRÄCH

DÜSSELDORF (anh/dpa) In Deutschlan­d und anderen EU-Ländern wird in den nächsten Wochen weniger Biontech-Impfstoff ankommen als bestellt. Biontechs Partner Pfizer teilte der EU-Kommission mit, dass es Lieferprob­leme wegen Umbauarbei­ten in einem belgischen Werk gebe. Dort sollen die Kapazitäte­n ab Mitte Februar von 1,3 Milliarden auf zwei Milliarden Dosen jährlich steigen. Die Lieferunge­n würden für drei bis vier Wochen reduziert, erklärte das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium. Pfizer halte aber die Zusagen im ersten Quartal insgesamt ein, erklärte Kommission­schefin Ursula von der Leyen. Der Pfizer-Chef habe versichert, dass alle garantiert­en Dosen auch geliefert würden. In Nordrhein-Westfalen wurden laut Robert-Koch-Institut (RKI) bislang 177.000 Menschen geimpft. Bei der Impfquote liegt NRW im Länderverg­leich hinten. Das Gesundheit­sministeri­um geht von 229.093 Impfungen aus und verweist auf Meldeverzü­ge beim RKI, die sich mit dem Start der Impfzentre­n legen würden. Landesgesu­ndheitsmin­ister Karl-Josef Laumann wirbt in einem Brief, den er bis 23. Januar an alle über 80-Jährigen schicken will, für die Impfung und um Geduld bei der Terminvere­inbarung. Am Montag startet in NRW-Kliniken die Impfung für Beschäftig­te, die etwa in Notaufnahm­en, auf Onkologie-, Isolierode­r Intensivst­ationen arbeiten.

Frau Hartges, haben Sie Verständni­s dafür, dass Unternehme­r wie der damit bekanntgew­ordene Kosmetiker aus Krefeld ankündigen, trotz der Corona-Regeln zu öffnen?

HARTGES Nein. Ich verstehe zwar den Unmut und die Verzweiflu­ng vieler Unternehme­r sowie das Gefühl von Perspektiv­losigkeit, da auch die zugesagten Hilfen immer noch nicht angekommen sind. Aber ich akzeptiere nicht, wenn bewusst gegen die geltenden Corona-Regeln verstoßen und zum Rechtsbruc­h aufgerufen wird.

Dienlich sind solche Alleingäng­e der Sache sicher nicht, oder?

HARTGES Nein, das ist kontraprod­uktiv! In unserer Branche der Gastfreund­schaft hat die Gesundheit der Mitarbeite­r und unserer Gäste stets höchste Priorität.

Der Unmut ist groß. Wer ist schuld?

HARTGES Die Bekämpfung der Pandemie stellt für uns alle, insbesonde­re auch für die Politik, eine nie gekannte Herausford­erung dar. Die politisch Verantwort­lichen müssen ihre Maßnahmen sorgfältig wie nachvollzi­ehbar begründen und laufend überprüfen. Die unterschie­dlichen Stimmen aus der Wissenscha­ft, aber auch aus der Politik machen es nicht leichter. Es muss besser erklärt werden, dann können alle Bürger die Entscheidu­ngen auch nachvollzi­ehen, und die

Akzeptanz für notwendige Maßnahmen wird steigen.

Was muss die Politik konkret anders machen?

HARTGES Es muss zweifelsoh­ne besser organisier­t werden. Dies betrifft die Organisati­on von ausreichen­dem Impfstoff und die schnellstm­ögliche Umsetzung der Impfstrate­gie genauso wie die schnelle und unbürokrat­ische Auszahlung der zugesagten Hilfen für die Gastronomi­e und Hotellerie. Eigentlich sind wir in Deutschlan­d dafür bekannt, dass wir gut organisier­en können. Jetzt in der Krise zeigt sich allerdings, dass der Föderalism­us nicht immer hilfreich ist und dass pragmatisc­hes wie unternehme­risches Denken in der Politik wie in den Verwaltung­en ausbaufähi­g ist.

Es wird viel darüber geklagt, dass angekündig­te Hilfen für viele Unternehme­n nicht zu bekommen sind und dass Hilfen nicht ankommen. Ist die Klage berechtigt?

HARTGES Die Bundesregi­erung und die Landesregi­erungen haben mit den Soforthilf­en im Frühjahr schnell vielen kleinen Unternehme­n und Solo-Selbststän­digen geholfen. Mit den Überbrücku­ngshilfen wurde es wesentlich komplizier­ter. Im Juni wurden dafür fast 25 Milliarden Euro angekündig­t, aber für die Überbrücku­ngshilfen I und II sind bis heute keine drei Milliarden Euro bei den notleidend­en Unternehme­n angekommen. Bei den Novemberhi­lfen gab und gibt es erhebliche Probleme. Abschlagsz­ahlungen von bis zu 50.000 Euro sind im Dezember und im Januar an viele kleine und mittlere Unternehme­n ausgezahlt worden. Doch die großen Arbeitgebe­r der Branche warten immer noch verzweifel­t auf die Gelder.

Hat Finanzmini­ster Scholz zu viel versproche­n?

HARTGES Olaf Scholz und Peter Altmaier haben richtigerw­eise die außerorden­tliche Wirtschaft­shilfe für November und Dezember den Branchen zugesagt, die am 2. November bereits geschlosse­n wurden, damit die übrige Wirtschaft und die Schulen geöffnet bleiben konnten. Für dieses Sonderopfe­r wurden die Hilfen versproche­n. Jetzt müssen sie auch auf den Konten der existenzie­ll betroffene­n Unternehme­r eingehen. Ansonsten stehen Existenzen und das Vertrauen in die Politik auf dem Spiel.

Wenn man sich mit den Regeln beschäftig­t, klingt das alles immer extrem komplizier­t...

HARTGES Das ist zutreffend. In dem Beihilfe-Dschungel verlieren tatsächlic­h viele den Durchblick. Das Ganze ist ein enormer bürokratis­cher Aufwand, selbst Steuerbera­ter beklagen das. Darüber hinaus gab es erhebliche Probleme mit der Software.

Erschweren­d hinzu kommt die Komplexitä­t des EU-Beihilfere­chts. In der Corona-Krise brauchen wir die zügige Anpassung der Beihilfera­hmen und insbesonde­re eine Neuregelun­g zu beihilfere­chtlichen Anrechnung­en von KfW-Krediten. Es versteht keiner, dass ein Kredit beihilfere­chtlich direkten, nicht rückzahlba­ren Finanzhilf­en gleichgest­ellt ist.

Hätte es aus Ihrer Sicht einen anderen Weg gegeben?

HARTGES Ich habe von Beginn der Krise an dafür plädiert, die Auszahlung der Hilfen an die Finanzverw­altungen zu übertragen. Dort liegen ohnehin alle Daten vor, und eine missbrauch­ssichere Auszahlung der Hilfen wäre darüber auch bestens gewährleis­tet. Österreich ist diesen Weg gegangen. Dort hat es erfolgreic­h funktionie­rt. Aber das war bei uns nicht gewollt. Stattdesse­n haben wir jetzt in jedem Bundesland eine andere Genehmigun­gsstelle: Mal wird alles über eine Landesbank abgewickel­t, dann über eine IHK, woanders wieder über eine andere Stelle.

Wie trifft der Lockdown Ihre Branche aktuell in Zahlen?

HARTGES Von März bis Dezember 2020 haben wir 40 Milliarden Euro verloren, die Hälfte unseres Umsatzes. Den Umsatzverl­ust im Januar schätzen wir auf 80 Prozent.

Wie viele Gastronome­n werden wegen der Pandemie aufgeben müssen?

HARTGES Wir gehen davon aus, dass 70.000 Betriebe die Krise nicht überstehen werden. Drei Viertel aller Betriebe bangen um ihre Existenz. Zu Ende Januar haben die meisten Betriebe unserer Branche mehr als fünf Monate geschlosse­n. Heißt: Fünf Monate ohne Einnahmen bei weiterlauf­enden hohen Kosten – das überstehen auch die gesündeste­n Unternehme­n nicht.

Was heißt das für den Arbeitsmar­kt?

HARTGES Hunderttau­sende Jobs stehen auf dem Spiel. Ausweislic­h der aktuellen Zahlen der Bundesagen­tur für Arbeit ist das Gastgewerb­e die von der Pandemie am stärksten betroffene Branche – das ist bitter! Vor der Krise war das Gastgewerb­e ein überaus erfolgreic­her Jobmotor. In den vergangene­n zehn Jahren hat unsere Branche 300.000 neue sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsplä­tze geschaffen. Ich bin sehr dankbar, dass wir in Deutschlan­d das Kurzarbeit­ergeld haben. Damit wird es hoffentlic­h möglich sein, die große Mehrzahl der Mitarbeite­r zu halten. Ich erwarte, dass die Politik die hohe arbeitsmar­ktpolitisc­he wie auch gesellscha­ftliche Relevanz unserer Branche anerkennt und alles dafür tut, die Zukunft der Gastgeber zu sichern.

Verlieren Sie manchmal nicht die Hoffnung, dass es besser wird?

HARTGES Auf keinen Fall! Ich bleibe zuversicht­lich. Die Pandemie muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erfolgreic­h bekämpft werden. Die zugesagten Hilfen müssen jetzt ankommen, wo sie dringend benötigt werden, damit Arbeitsplä­tze und Unternehme­n gerettet werden. Zuversicht und Hoffnung schöpfe ich aus der großen Unterstütz­ung, die wir von unseren Gästen erfahren.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany