Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
In der Festung
Ein Großaufgebot an Soldaten der Nationalgarde patrouilliert im US-Kapitol und davor. Die Angst vor der Rückkehr des Mobs ist groß. Ein Besuch im amerikanischen Parlament.
Es sieht so aus, als wären die Vandalen eben erst eingefallen. Immer noch, neun Tage nachdem Hunderte Anhänger Donald Trumps das Parlament stürmten. Auf dem marineblauen Teppich liegt kreuz und quer bedrucktes Papier, herausgerissen aus Aktenordnern und Schreibtischschubladen. Das Polster eines Ledersessels ist aufgeschlitzt, selbst den Schredder hat jemand durchsucht und den Inhalt auf den Boden gekippt. Eine Forensikerin in weißer Schutzkleidung ist gerade dabei, Fingerabdrücke zu sichern. Nichts darf angerührt, nichts verändert werden im Chaos von Zimmer S 132. Spurensuche an einem Tatort.
Hier unten, im Parterre des Senatsgebäudes, schlugen die ersten Angreifer die Scheiben von Fenstern und Türen ein. Eine Etage höher steckt in der Bürotür des gerade nicht anwesenden Republikaners Mitch McConnell ein Blatt Papier. „Empfehlungen“der Capitol Police. Die am 6. Januar überrannte, überforderte Parlamentspolizei bittet darum, an den Tagen rund um die Amtseinführung des neuen Präsidenten die Kamine nicht zu benutzen. „Ein Verzicht reduziert die Einwirkung von Rauch für die Beamten, die auf dem Dach stationiert sind.“Als ob es keine anderen Sorgen gäbe.
Die größte ist die, dass Joe Biden etwas zustoßen könnte, wenn er am 20. Januar die Hand auf die Bibel legt, seinen Amtseid leistet und in einer Rede skizziert, was er sich vorgenommen hat für die nächsten vier Jahre im Oval Office. Ein Drohnenangriff, ein Scharfschütze, ein Mob, der noch einmal sämtliche Sperren durchbricht: An Bedrohungsszenarien mangelt es nicht. Michael Beschloss, einer der bekanntesten Historiker der USA und spezialisiert auf die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten, hat Biden geraten, auf den Auftritt im Freien zu verzichten. Nach einer Revolte, die mit Geiselnahmen und Hinrichtungen hätte enden können, sei er der Meinung, dass die Inauguration an einem rundum sicheren Ort über die Bühne gehen müsse. „Wenn das eine Höhle ist oder eine Militärbasis, soll es mir recht sein“, sagt er.
Es sieht nicht danach aus, als würde der designierte 46. Präsident der Vereinigten Staaten auf den Rat hören. Er habe keine Angst davor, sich unter freiem Himmel vereidigen zu lassen, entgegnet Biden. Der Satz allein macht schon deutlich, in welcher Ausnahmesituation sich das Land befindet. Eigentlich soll der Inauguration Day ein Freudentag sein. Ein Tag, an dem Amerika den friedlichen Machtwechsel feiert. Normalerweise ist Washington schon in den Tagen zuvor voller ausgelassener Menschen. Diesmal ist alles anders. Washington, zumindest das Zentrum, gleicht einer Geisterstadt. Bürgermeisterin Muriel Bowser fordert ihre Landsleute in Kalifornien, Texas oder Wisconsin ausdrücklich auf, der Hauptstadt fernzubleiben.
Joe Biden, der in 36 Berufsjahren im Senat nahezu täglich mit der Bahn von seinem Wohnort Wilmington nach Washington und zurück fuhr, wollte auch diesmal mit dem Zug kommen. Am Mittwoch hat er den Plan aufgegeben. Sicherheitsbedenken.
So oder so, es ist die Festung Washington, in der er seinen Schwur leisten wird. Über 20.000 Nationalgardisten sollen kommende Woche bereitstehen für den Fall, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöver starten. Schon jetzt bewachen Männer im Tarnfleck die zweieinhalb Meter hohen Eisenzäune, die neuerdings einen geschlossenen Ring ums Kapitol bilden. Sie tragen Sturmgewehre und kugelsichere Westen, alle sechs, sieben Meter steht einer von ihnen an dem schwarzen Zaun. Die Straßen rings ums Parlament sind weiträumig abgeriegelt. Überall Betonbarrieren, überall Sperrholzplatten vor Glasfronten. Am Mittwoch, als das Repräsentantenhaus über das Impeachment Donald Trumps abstimmte, hielten mehrere Hundert Nationalgardisten im Parlament Wache. Einige schliefen auf dem Marmorfußboden – ein Heerlager inmitten historischer Pracht.
Es gibt Experten, die prophezeien, dass sich am Inauguration Day angesichts des Riesenaufgebots an Schwerbewaffneten mit ziemlicher Sicherheit nicht wiederholt, was am 6. Januar geschah. Andererseits kommen jeden Tag neue Details ans Licht, und sie tragen nicht dazu bei, die Nerven zu beruhigen in einer ohnehin schon akut verunsicherten Stadt. Je mehr Erkenntnisse die Ermittler des FBI öffentlich machen, umso klarer wird, dass es eben kein spontaner Protest war – oder eben nicht nur. Zu den Eindringlingen gehörten auch Leute, die offenbar genau wussten, was sie taten, einiges lässt auf militärische Erfahrung schließen.
Dann wäre da noch der Verdacht, dass Beamte der Capitol Police mit den Eindringlingen kooperierten, statt sich ihnen in den Weg zu stellen. Und möglicherweise waren Insider aus dem Kongress daran beteiligt, den Angriff zu planen. Noch ist es ein Gerücht, doch es wird immer lauter diskutiert. Einer der Anführer des Überfalls hat angegeben, sich mit drei republikanischen Abgeordneten abgesprochen zu haben. Zudem gibt es Berichte über eine gerade in Pandemiezeiten erstaunlich hohe Zahl von Besuchern, die am Tag vor der Attacke durch das Kongressgebäude geführt wurden. Die Demokratin Mikie Sherrill spricht von Erkundungstouren und fordert lückenlose Aufklärung. Ihr Parteifreund Jamie Raskin glaubt, dass das Leben etlicher Volksvertreter am 6. Januar am seidenen Faden hing. „Jeder von uns“, sagte er am Mittwoch, während das Hohe Haus über die Amtsenthebung Trumps debattierte, „jeder, der heute in diesem Saal sitzt, hätte sterben können.“
Es wirkt, als warte man auf die Offensive einer feindlichen Armee