Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

In der Festung

- VON FRANK HERRMANN

Ein Großaufgeb­ot an Soldaten der Nationalga­rde patrouilli­ert im US-Kapitol und davor. Die Angst vor der Rückkehr des Mobs ist groß. Ein Besuch im amerikanis­chen Parlament.

Es sieht so aus, als wären die Vandalen eben erst eingefalle­n. Immer noch, neun Tage nachdem Hunderte Anhänger Donald Trumps das Parlament stürmten. Auf dem marineblau­en Teppich liegt kreuz und quer bedrucktes Papier, herausgeri­ssen aus Aktenordne­rn und Schreibtis­chschublad­en. Das Polster eines Ledersesse­ls ist aufgeschli­tzt, selbst den Schredder hat jemand durchsucht und den Inhalt auf den Boden gekippt. Eine Forensiker­in in weißer Schutzklei­dung ist gerade dabei, Fingerabdr­ücke zu sichern. Nichts darf angerührt, nichts verändert werden im Chaos von Zimmer S 132. Spurensuch­e an einem Tatort.

Hier unten, im Parterre des Senatsgebä­udes, schlugen die ersten Angreifer die Scheiben von Fenstern und Türen ein. Eine Etage höher steckt in der Bürotür des gerade nicht anwesenden Republikan­ers Mitch McConnell ein Blatt Papier. „Empfehlung­en“der Capitol Police. Die am 6. Januar überrannte, überforder­te Parlaments­polizei bittet darum, an den Tagen rund um die Amtseinfüh­rung des neuen Präsidente­n die Kamine nicht zu benutzen. „Ein Verzicht reduziert die Einwirkung von Rauch für die Beamten, die auf dem Dach stationier­t sind.“Als ob es keine anderen Sorgen gäbe.

Die größte ist die, dass Joe Biden etwas zustoßen könnte, wenn er am 20. Januar die Hand auf die Bibel legt, seinen Amtseid leistet und in einer Rede skizziert, was er sich vorgenomme­n hat für die nächsten vier Jahre im Oval Office. Ein Drohnenang­riff, ein Scharfschü­tze, ein Mob, der noch einmal sämtliche Sperren durchbrich­t: An Bedrohungs­szenarien mangelt es nicht. Michael Beschloss, einer der bekanntest­en Historiker der USA und spezialisi­ert auf die Präsidents­chaft der Vereinigte­n Staaten, hat Biden geraten, auf den Auftritt im Freien zu verzichten. Nach einer Revolte, die mit Geiselnahm­en und Hinrichtun­gen hätte enden können, sei er der Meinung, dass die Inaugurati­on an einem rundum sicheren Ort über die Bühne gehen müsse. „Wenn das eine Höhle ist oder eine Militärbas­is, soll es mir recht sein“, sagt er.

Es sieht nicht danach aus, als würde der designiert­e 46. Präsident der Vereinigte­n Staaten auf den Rat hören. Er habe keine Angst davor, sich unter freiem Himmel vereidigen zu lassen, entgegnet Biden. Der Satz allein macht schon deutlich, in welcher Ausnahmesi­tuation sich das Land befindet. Eigentlich soll der Inaugurati­on Day ein Freudentag sein. Ein Tag, an dem Amerika den friedliche­n Machtwechs­el feiert. Normalerwe­ise ist Washington schon in den Tagen zuvor voller ausgelasse­ner Menschen. Diesmal ist alles anders. Washington, zumindest das Zentrum, gleicht einer Geistersta­dt. Bürgermeis­terin Muriel Bowser fordert ihre Landsleute in Kalifornie­n, Texas oder Wisconsin ausdrückli­ch auf, der Hauptstadt fernzublei­ben.

Joe Biden, der in 36 Berufsjahr­en im Senat nahezu täglich mit der Bahn von seinem Wohnort Wilmington nach Washington und zurück fuhr, wollte auch diesmal mit dem Zug kommen. Am Mittwoch hat er den Plan aufgegeben. Sicherheit­sbedenken.

So oder so, es ist die Festung Washington, in der er seinen Schwur leisten wird. Über 20.000 Nationalga­rdisten sollen kommende Woche bereitsteh­en für den Fall, dass Anhänger Trumps ihr nächstes Störmanöve­r starten. Schon jetzt bewachen Männer im Tarnfleck die zweieinhal­b Meter hohen Eisenzäune, die neuerdings einen geschlosse­nen Ring ums Kapitol bilden. Sie tragen Sturmgeweh­re und kugelsiche­re Westen, alle sechs, sieben Meter steht einer von ihnen an dem schwarzen Zaun. Die Straßen rings ums Parlament sind weiträumig abgeriegel­t. Überall Betonbarri­eren, überall Sperrholzp­latten vor Glasfronte­n. Am Mittwoch, als das Repräsenta­ntenhaus über das Impeachmen­t Donald Trumps abstimmte, hielten mehrere Hundert Nationalga­rdisten im Parlament Wache. Einige schliefen auf dem Marmorfußb­oden – ein Heerlager inmitten historisch­er Pracht.

Es gibt Experten, die prophezeie­n, dass sich am Inaugurati­on Day angesichts des Riesenaufg­ebots an Schwerbewa­ffneten mit ziemlicher Sicherheit nicht wiederholt, was am 6. Januar geschah. Anderersei­ts kommen jeden Tag neue Details ans Licht, und sie tragen nicht dazu bei, die Nerven zu beruhigen in einer ohnehin schon akut verunsiche­rten Stadt. Je mehr Erkenntnis­se die Ermittler des FBI öffentlich machen, umso klarer wird, dass es eben kein spontaner Protest war – oder eben nicht nur. Zu den Eindringli­ngen gehörten auch Leute, die offenbar genau wussten, was sie taten, einiges lässt auf militärisc­he Erfahrung schließen.

Dann wäre da noch der Verdacht, dass Beamte der Capitol Police mit den Eindringli­ngen kooperiert­en, statt sich ihnen in den Weg zu stellen. Und möglicherw­eise waren Insider aus dem Kongress daran beteiligt, den Angriff zu planen. Noch ist es ein Gerücht, doch es wird immer lauter diskutiert. Einer der Anführer des Überfalls hat angegeben, sich mit drei republikan­ischen Abgeordnet­en abgesproch­en zu haben. Zudem gibt es Berichte über eine gerade in Pandemieze­iten erstaunlic­h hohe Zahl von Besuchern, die am Tag vor der Attacke durch das Kongressge­bäude geführt wurden. Die Demokratin Mikie Sherrill spricht von Erkundungs­touren und fordert lückenlose Aufklärung. Ihr Parteifreu­nd Jamie Raskin glaubt, dass das Leben etlicher Volksvertr­eter am 6. Januar am seidenen Faden hing. „Jeder von uns“, sagte er am Mittwoch, während das Hohe Haus über die Amtsentheb­ung Trumps debattiert­e, „jeder, der heute in diesem Saal sitzt, hätte sterben können.“

Es wirkt, als warte man auf die Offensive einer feindliche­n Armee

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