Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Die neue Esskultur
Die Corona-Krise beeinflusst unser Ernährungsverhalten im Alltag stark. Die Trophologin Hanni Rützler spricht von einer Renaissance des Selberkochens. Die geregelte Mahlzeit hat einen neuen Stellenwert.
ochenlange Lockdowns, KontaktbeschränkunWgen
und der Rückzug ins Häusliche – die Coronavirus-Pandemie hat viele unserer Gewohnheiten verändert. 2020 wurde so viel selber gekocht wie schon lange nicht mehr. In Krisenzeiten zeigt Essen, was es alles kann. Ernährungsexpertin Hanni Rützler stellt in ihrem Food Report 2021 zudem eine Rückkehr zu einer geregelten Ernährung fest – drei Mahlzeiten pro Tag zu sich zu nehmen, habe wieder die „strukturgebende Funktion zurückgewonnen“. Durch das Homeoffice erfahre Essen einen neuen Stellenwert. Wer nicht allein lebt, kommt nun zum Essen oft wieder zusammen.
Durch die Zeit in den eigenen vier Wänden und die eingeschränkte Öffnung von Restaurants haben viele Menschen ihre Ernährung überdacht, sich intensiver mit den Themen Einkauf, Lagerung und Haltbarmachen beschäftigt. Online-Kochkurse und das Angebot an Kochboxen boomen, Essen wurde zu einem kleinen, bewusst gesetzten Highlight in einem relativ eintönigen Alltag.
Statt im Anzug geht es jetzt in Jogginghose an die Arbeit, das Essen
wird online und nicht mehr in der Kantine bestellt. E-Food hatte es bislang vor allem in Deutschland schwer – nun zieht der Markt an, so Rützler, die seit 25 Jahren den Wandel unserer Esskultur analysiert. Generell profitieren nun Lieferdienste, vor allem lokale Serviceangebote von Supermärkten, aber auch Lebensmittelkisten mit Produkten aus der Region direkt vom Bauern. Insbesondere Bio-Lebensmittel seien in diesen Zeiten stark gefragt, betont die Forscherin. Und es werde klar, wie wertvoll die Arbeit der Erzeuger und Hersteller ist, aber auch der Händler, die die lokale Lebensmittelversorgung der Menschen gewährleisten.
„Die Welt ist kleiner geworden, die Globalisierung ist uns sehr bewusst – und das stärkt den Fokus auf das Regionale“, erklärt Hanni Rützler. Es sei ein Pingpong zwischen Globalisierung und Regionalität. Die Rede ist daher von „Glokalisierung“. Sie stärke die regionalen Netzwerke durch bewusste Kaufentscheidungen, ohne die Vorteile der Globalisierung zu vergessen. Die Wahrnehmung regionaler und saisonaler Produkte erfahre einen ordentlichen Rückenwind, auch weil man die regionalen Geschäfte mehr unterstützen möchte.
Die Relevanz der heimischen Landwirtschaft steigt – „diese neue Wertschätzung können wir nutzen, um auch die Vielfalt zu erhöhen“, sagt Harry Gatterer vom Deutschen Zukunftsinstitut. Das bedeutet: nicht nur eine größere Menge der gleichen Lebensmittel günstiger und in kürzerer Zeit zu produzieren, sondern unterschiedliche Sorten von Obst und Gemüse und eine größere Vielfalt an Getreide anzubauen, oder nicht nur die ertragreichsten Rassen an Nutztieren zu halten. Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion stehen vor tiefgreifenden Erneuerungen. Um künftig die globale Ernährungsversorgung gewährleisten zu können, ist eine Besinnung auf die Vielfalt von Nutzpflanzen und -tieren gefragt.
Die Anfälligkeit von Monokulturen und die daraus resultierenden Ernteausfälle machen klar, wie fragil unser globales Ernährungssystem ist. Hinzu kommt der Klimawandel,
Hanni Rützler Food-Forscherin
der zu einer der größten Herausforderungen der Menschheit geworden ist. Daher gilt es, die biologische Vielfalt zu erhalten und zu fördern, sagen die Experten. Agrobiodiversität macht demnach die Landwirtschaft resilienter und krisenfester. Und sie sorgt für mehr Abwechslung auf unseren Tellern.
Während die Krise in einigen Fällen als Beschleuniger von Entwicklungen wirkt, beispielsweise in den Bereichen Lieferung mit Online-Bestellung und -Bezahlung, Gesundheit und Neo-Ökologie, bremst sie in anderen Fällen Entwicklungen aus: etwa den Wandel des Essverhaltens in Richtung „Snackification“, also dem flexiblen Einnehmen von gesunden Mini-Mahlzeiten zwischendurch.
Der Lockdown bringt viele Menschen in der Lebensmittel- und Gastro-Branche dazu, die Ärmel hochzukrempeln und die Kreativität zu mobilisieren, Dinge einfach anzugehen, zu improvisieren, zu experimentieren. Die Krise macht zwangsläufig erfinderisch und setzt neue Kräfte frei, zukunftstaugliche Konzepte zu entwickeln, die sich auch nach der Krise bewähren werden. Sie lässt uns darüber nachdenken, was wir ändern wollen, um unsere Esskultur nachhaltiger und genussvoller zu gestalten.
„Die Welt ist kleiner geworden, die Globalisierung ist uns bewusst – das stärkt den Fokus aufs Regionale“