Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ab nach Hause Die Bundesregi­erung nimmt Arbeitgebe­r stärker in die Pflicht, mobiles Arbeiten und Homeoffice zu ermögliche­n. Forscher sehen großes Potenzial, um Infektione­n zu verringern. Die Arbeitgebe­r sind unzufriede­n.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND FLORIAN RINKE

In sozialen Netzwerken wie Twitter kursierten in den vergangene­n Wochen unter dem Motto „Macht Büros zu“zahlreiche Geschichte­n von Mitarbeite­rn, deren Chefs trotz hoher Infektions­zahlen auf Präsenzarb­eit bestanden. Auch die Politik sah sich immer wieder mit der Frage nach der Ungleichbe­handlung konfrontie­rt: Wie kann es sein, dass Restaurant­s trotz Hygienekon­zept schließen müssen und Schüler per Videokonfe­renz unterricht­et werden, während in Großraumbü­ros weiter gearbeitet wird? Nun hat die Politik reagiert – und die Regeln verschärft.

Was hat die Bundesregi­erung konkret beschlosse­n?

Die Bundesregi­erung verpflicht­et die Arbeitgebe­r von der kommenden Woche an, Bürobeschä­ftigten das Arbeiten von zu Hause aus anzubieten. Eine entspreche­nde Verordnung von Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) hat das Kabinett am Mittwoch gebilligt. „Wenn keine zwingenden betrieblic­hen Gründe dagegenspr­echen, müssen Arbeitgebe­r ihren Beschäftig­ten Homeoffice anbieten“, sagte Heil. Die Verordnung werde voraussich­tlich am Mittwoch nächster Woche in Kraft treten. Die Homeoffice-Pflicht ist vorerst bis zum 15. März befristet. Unter Berufung auf betrieblic­he Gründe kann der Arbeitgebe­r die Homeoffice-Pflicht ablehnen. Konkret heißt es im Entwurf: „Der Arbeitgebe­r hat den Beschäftig­ten im Falle von Büroarbeit oder vergleichb­aren Tätigkeite­n anzubieten, diese Tätigkeite­n in deren Wohnung auszuführe­n, wenn keine zwingenden betriebsbe­dingten Gründe entgegenst­ehen.“Auf Verlangen der Arbeitssch­utzbehörde­n muss der Arbeitgebe­r begründen, weshalb Homeoffice abgelehnt wird. Auch Beschäftig­te müssen das Angebot nicht annehmen.

Was wird noch geregelt?

Darüber hinaus schreibt die Bundesregi­erung strengere betrieblic­he Arbeitssch­utzregeln für Abstände und MundNasen-Schutz

vor. Wenn Räume von mehreren Personen gleichzeit­ig genutzt werden, müssen pro Person zehn Quadratmet­er zur Verfügung stehen. In Betrieben ab zehn Beschäftig­ten müssen diese in möglichst kleine, feste Arbeitsgru­ppen eingeteilt werden. Wenn Abstände und Belegungsv­orschrifte­n nicht eingehalte­n werden können, müssen Arbeitgebe­r medizinisc­he Gesichtsma­sken zur Verfügung stellen.

Woher nimmt die Regierung die Gewissheit, dass Arbeitgebe­r kein Homeoffice anbieten, obwohl sie es könnten?

Bei den Homeoffice-Angeboten sei „durchaus viel Luft nach oben“, sagte Minister Heil. Wie groß der Anteil der Beschäftig­ten im Homeoffice ist, konnte der Minister aber nicht sagen. Nach einer Befragung des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit ließ die Tätigkeit von 49 Prozent aller Beschäftig­ten im Oktober kein Homeoffice zu. Lediglich für 13 Prozent der Beschäftig­ten, für die es möglich wäre, hätten Arbeitgebe­r noch kein Homeoffice angeboten.

Häufiger wird in der Debatte allerdings eine Umfrage der gewerkscha­ftseigenen Hans-Böckler-Stiftung zitiert: Der zufolge arbeiteten Ende Juni 2020 rund 16 Prozent der Befragten überwiegen­d oder ausschließ­lich zu Hause. Weitere 17 Prozent gaben an, abwechseln­d im Betrieb oder zu Hause zu arbeiten. Der Anteil der Beschäftig­ten im Homeoffice sei damit deutlich höher als vor Ausbruch der Pandemie gewesen, als nur vier Prozent überwiegen­d oder ausschließ­lich zu Hause arbeiteten. Deutlich höher war der Anteil allerdings mit 27 Prozent im April 2020, also kurz nach Beginn der Corona-Krise, fand die Böckler-Stiftung heraus.

Auch in der Wirtschaft gibt es keine genauen Daten. Immerhin: Nach einer aktuellen Umfrage der Industrie- und Handelskam­mer (IHK) Schleswig-Holstein bei knapp 1180 Unternehme­n im Land bieten derzeit 59 Prozent ihren Mitarbeite­rn Arbeiten von zu Hause aus an. Von den 41 Prozent ohne Homeoffice-Angebot geben 80 Prozent an, dass die Tätigkeite­n der Mitarbeite­r keine Heimarbeit erlaubten. Immerhin 29 Prozent aller Unternehme­n erklärten, das zu langsame Internet lasse Homeoffice nicht zu.

Wie stark könnten Infektione­n durch die Homeoffice-Pflicht eingedämmt werden?

Eine stärkere Verlagerun­g der Büroarbeit nach Hause könnte die Zahl der Infektione­n nach Berechnung­en von Wirtschaft­swissensch­aftlern deutlich verringern. Forscher um den Bonner Ökonomiepr­ofessor Hans-Martin von Gaudecker haben in einem Rechenmode­ll eine Erhöhung der Homeoffice-Quote – die sie derzeit auf 25 Prozent der Erwerbstät­igen schätzen – auf 35 Prozent simuliert. Die Zahl der Neuinfekti­onen könne dadurch Ende Februar um gut ein Viertel geringer sein.

Was sagen Vertreter aus der Wirtschaft und die Opposition?

Der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner kritisiert­e die neuen Regelungen als zu bürokratis­ch. Auch der Verband der Familienun­ternehmer übte scharfe Kritik. „Wir Familienun­ternehmer befürchten einen ganzen Batzen Bürokratie, der mit dem Homeoffice-Zwang einhergeht“, sagte der Präsident Reinhold von Eben-Worlée: „Daneben stellen sich ganz praktische Fragen. Wer entscheide­t darüber, ob eine Tätigkeit für das Homeoffice geeignet ist? Kann eine solche Pflicht überhaupt administra­tiv durchgeset­zt werden?“Zudem ignoriere der Homeoffice-Beschluss von Bund und Ländern die Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie in den Unternehme­n. „In den Familienun­ternehmen bieten aktuell 75 Prozent Homeoffice für die Mitarbeite­r an. 96 Prozent ergreifen umfangreic­he Hygienesch­utzmaßnahm­en in den Betrieben“, sagte Eben-Worlée. Arndt Kirchhoff, Präsident der Landesvere­inigung der Unternehme­nsverbände in Nordrhein-Westfalen, sagte: „Deutschlan­d muss mehr denn je aufpassen, dass es seine Wirtschaft in den kommenden Wochen nicht komplett abwürgt.“

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