Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ab nach Hause Die Bundesregierung nimmt Arbeitgeber stärker in die Pflicht, mobiles Arbeiten und Homeoffice zu ermöglichen. Forscher sehen großes Potenzial, um Infektionen zu verringern. Die Arbeitgeber sind unzufrieden.
In sozialen Netzwerken wie Twitter kursierten in den vergangenen Wochen unter dem Motto „Macht Büros zu“zahlreiche Geschichten von Mitarbeitern, deren Chefs trotz hoher Infektionszahlen auf Präsenzarbeit bestanden. Auch die Politik sah sich immer wieder mit der Frage nach der Ungleichbehandlung konfrontiert: Wie kann es sein, dass Restaurants trotz Hygienekonzept schließen müssen und Schüler per Videokonferenz unterrichtet werden, während in Großraumbüros weiter gearbeitet wird? Nun hat die Politik reagiert – und die Regeln verschärft.
Was hat die Bundesregierung konkret beschlossen?
Die Bundesregierung verpflichtet die Arbeitgeber von der kommenden Woche an, Bürobeschäftigten das Arbeiten von zu Hause aus anzubieten. Eine entsprechende Verordnung von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat das Kabinett am Mittwoch gebilligt. „Wenn keine zwingenden betrieblichen Gründe dagegensprechen, müssen Arbeitgeber ihren Beschäftigten Homeoffice anbieten“, sagte Heil. Die Verordnung werde voraussichtlich am Mittwoch nächster Woche in Kraft treten. Die Homeoffice-Pflicht ist vorerst bis zum 15. März befristet. Unter Berufung auf betriebliche Gründe kann der Arbeitgeber die Homeoffice-Pflicht ablehnen. Konkret heißt es im Entwurf: „Der Arbeitgeber hat den Beschäftigten im Falle von Büroarbeit oder vergleichbaren Tätigkeiten anzubieten, diese Tätigkeiten in deren Wohnung auszuführen, wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen.“Auf Verlangen der Arbeitsschutzbehörden muss der Arbeitgeber begründen, weshalb Homeoffice abgelehnt wird. Auch Beschäftigte müssen das Angebot nicht annehmen.
Was wird noch geregelt?
Darüber hinaus schreibt die Bundesregierung strengere betriebliche Arbeitsschutzregeln für Abstände und MundNasen-Schutz
vor. Wenn Räume von mehreren Personen gleichzeitig genutzt werden, müssen pro Person zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen. In Betrieben ab zehn Beschäftigten müssen diese in möglichst kleine, feste Arbeitsgruppen eingeteilt werden. Wenn Abstände und Belegungsvorschriften nicht eingehalten werden können, müssen Arbeitgeber medizinische Gesichtsmasken zur Verfügung stellen.
Woher nimmt die Regierung die Gewissheit, dass Arbeitgeber kein Homeoffice anbieten, obwohl sie es könnten?
Bei den Homeoffice-Angeboten sei „durchaus viel Luft nach oben“, sagte Minister Heil. Wie groß der Anteil der Beschäftigten im Homeoffice ist, konnte der Minister aber nicht sagen. Nach einer Befragung des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ließ die Tätigkeit von 49 Prozent aller Beschäftigten im Oktober kein Homeoffice zu. Lediglich für 13 Prozent der Beschäftigten, für die es möglich wäre, hätten Arbeitgeber noch kein Homeoffice angeboten.
Häufiger wird in der Debatte allerdings eine Umfrage der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung zitiert: Der zufolge arbeiteten Ende Juni 2020 rund 16 Prozent der Befragten überwiegend oder ausschließlich zu Hause. Weitere 17 Prozent gaben an, abwechselnd im Betrieb oder zu Hause zu arbeiten. Der Anteil der Beschäftigten im Homeoffice sei damit deutlich höher als vor Ausbruch der Pandemie gewesen, als nur vier Prozent überwiegend oder ausschließlich zu Hause arbeiteten. Deutlich höher war der Anteil allerdings mit 27 Prozent im April 2020, also kurz nach Beginn der Corona-Krise, fand die Böckler-Stiftung heraus.
Auch in der Wirtschaft gibt es keine genauen Daten. Immerhin: Nach einer aktuellen Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schleswig-Holstein bei knapp 1180 Unternehmen im Land bieten derzeit 59 Prozent ihren Mitarbeitern Arbeiten von zu Hause aus an. Von den 41 Prozent ohne Homeoffice-Angebot geben 80 Prozent an, dass die Tätigkeiten der Mitarbeiter keine Heimarbeit erlaubten. Immerhin 29 Prozent aller Unternehmen erklärten, das zu langsame Internet lasse Homeoffice nicht zu.
Wie stark könnten Infektionen durch die Homeoffice-Pflicht eingedämmt werden?
Eine stärkere Verlagerung der Büroarbeit nach Hause könnte die Zahl der Infektionen nach Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern deutlich verringern. Forscher um den Bonner Ökonomieprofessor Hans-Martin von Gaudecker haben in einem Rechenmodell eine Erhöhung der Homeoffice-Quote – die sie derzeit auf 25 Prozent der Erwerbstätigen schätzen – auf 35 Prozent simuliert. Die Zahl der Neuinfektionen könne dadurch Ende Februar um gut ein Viertel geringer sein.
Was sagen Vertreter aus der Wirtschaft und die Opposition?
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte die neuen Regelungen als zu bürokratisch. Auch der Verband der Familienunternehmer übte scharfe Kritik. „Wir Familienunternehmer befürchten einen ganzen Batzen Bürokratie, der mit dem Homeoffice-Zwang einhergeht“, sagte der Präsident Reinhold von Eben-Worlée: „Daneben stellen sich ganz praktische Fragen. Wer entscheidet darüber, ob eine Tätigkeit für das Homeoffice geeignet ist? Kann eine solche Pflicht überhaupt administrativ durchgesetzt werden?“Zudem ignoriere der Homeoffice-Beschluss von Bund und Ländern die Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie in den Unternehmen. „In den Familienunternehmen bieten aktuell 75 Prozent Homeoffice für die Mitarbeiter an. 96 Prozent ergreifen umfangreiche Hygieneschutzmaßnahmen in den Betrieben“, sagte Eben-Worlée. Arndt Kirchhoff, Präsident der Landesvereinigung der Unternehmensverbände in Nordrhein-Westfalen, sagte: „Deutschland muss mehr denn je aufpassen, dass es seine Wirtschaft in den kommenden Wochen nicht komplett abwürgt.“