Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Präsident der Einheit

- VON FRANK HERRMANN

Joe Bidens Amtseinfüh­rung ist eine Rückkehr zu Empathie und Ernsthafti­gkeit. Vieles ist anders an diesem Tag – wegen der Pandemie und wegen der Sicherheit­sbedenken. Aber wenigstens das Ritual auf der Bühne ist emotional wie eh und je.

WASHINGTON Es ist die Schweigemi­nute. Es ist Joe Bidens Aufruf, der Toten der Pandemie zu gedenken, der wohl am kontrastre­ichsten den Unterschie­d zu seinem Vorgänger symbolisie­rt. Mit gesenktem Haupt steht der neue Präsident im kräftigen, kalten Wind, der über den Parlaments­hügel weht. Alle dort Versammelt­en tun es ihm nach.

Die Geste allein macht deutlich, was sich ändert, nachdem Donald Trump, der Schönredne­r der Pandemie, der die Gefahr meistens heruntersp­ielte oder andere für eigene Versäumnis­se verantwort­lich machte, das Weiße Haus verlassen hat. Mit ihm, signalisie­rt der weißhaarig­e Mann auf der Tribüne, kehrt die Empathie zurück in die Machtzentr­ale. Die Ernsthafti­gkeit. Das Gegenteil burschikos­en Schlendria­ns.

Die Schweigemi­nute markiert das Ende einer Rede, die als eine der kürzeren in die Chronik amerikanis­cher Inaugurati­onen eingehen wird. Etwas länger als 20 Minuten steht Biden auf der Bühne an der Westseite des Kapitols, um zu skizzieren, was ihm wichtig ist. Das Schlüsselw­ort lautet: Unity. Einheit.

Schon im Wahlkampf ist der Demokrat mit dem Verspreche­n angetreten, Brücken zu bauen über Gräben, die unter dem Spalter Trump noch tiefer und breiter geworden sind. Das Verspreche­n wiederholt er; es ist das Motiv, dem er alles unterordne­t, eigentlich das einzige seiner Rede. „Ohne Einheit gibt es keinen Frieden, nur Verbitteru­ng und Wut“, sagt Joseph Robinette Biden jr.

In der Geschichte der Nation habe es nur wenige Momente gegeben, in denen die Herausford­erungen größer gewesen seien als heute. Um sie zu meistern, um Amerikas Seele zu heilen und seine Zukunft zu sichern, reichten Worte nicht aus. Dazu bedürfe es der Einheit, einer Sache, die in einer Demokratie am flüchtigst­en sei. „Wir müssen diesen unzivilisi­erten Krieg beenden, der Rote gegen Blaue, Land gegen Stadt, Konservati­ve gegen Progressiv­e ausspielt.“Das könne gelingen, wenn man sich für einen Augenblick in den anderen hineinvers­etze.

Politik müsse kein loderndes Feuer sein, das alles zerstöre. Nicht jede Meinungsve­rschiedenh­eit müsse ein Grund für „totalen Krieg“sein. Man möge ihm zuhören, wendet sich der 78-Jährige an die Anhänger Trumps. Wenn man dann immer noch anderer Meinung sei, dann sei das eben so. „So geht Demokratie. Das ist Amerika.“Gleich zu Beginn, als er zurückblen­det auf den 6. Januar, an dem ein rechter Mob das Kapitol

stürmte, spricht Biden von der Demokratie, die letztlich die Oberhand behalten habe. Und hatte er noch vor Wochen, unter dem Eindruck der Pandemieza­hlen, von einem dunklen Winter gesprochen, so klingt es diesmal um eine Nuance optimistis­cher. „Ein Winter der Gefahr und der Möglichkei­ten“, sagt er.

Um 11.49 Uhr Ortszeit, elf Minuten vor dem Zeitpunkt des Machtüberg­angs, wie ihn die Verfassung festlegt, hat er seine rechte Hand zum Schwur erhoben und die linke auf eine Bibel gelegt, die sich seit 1893 im Besitz seiner irisch-amerikanis­chen Vorfahren befindet und deren Einband ein Keltenkreu­z ziert. Lady Gaga, die bereits den Wahlkampfe­ndspurt an Bidens Seite bestritt, singt die Nationalhy­mne. „This land was made for you and me“, singt Jennifer Lopez.

Nach der Ansprache des neuen Präsidente­n stimmt der Countrysän­ger Garth Brooks, nachdem er seinen Cowboyhut abgelegt hat, „Amazing Grace“an. Wenigstens das:

Am Ritual auf der Bühne hat sich nichts geändert im Vergleich zu früheren Jahren, auch wenn es nicht an Ratgebern fehlte, die Biden aus Sorge um seine Sicherheit nahelegten, auf den Auftritt im Freien zu verzichten. Im Januar 1945, im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs, wurde der kranke Franklin Delano Roosevelt im Weißen Haus vereidigt, und es gab Historiker, die Biden empfahlen, sich daran ein Beispiel zu nehmen. So weit ist es dann doch nicht gekommen, doch ansonsten ist es eine Zeremonie, die auf alles verzichtet, was den Inaugurati­on Day in jüngerer Vergangenh­eit immer auch zu einem Volksfest werden ließ.

Auf der National Mall, der von Museen und Denkmälern gesäumten Grünfläche zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, gibt es keine Menschenma­ssen, die dem neuen Präsidente­n zujubeln. Stattdesse­n hat man unzählige Sternenban­ner auf dem Rasen platziert. Auf der Pennsylvan­ia Avenue gibt es keine Parade, über der sonst immer, alle vier Jahre, ein Hauch von Karneval lag. Auf der Tribüne hinter Biden sitzen, Stoffmaske­n vor Mund und Nase, etwa 200 Gäste, darunter, mit Ausnahme Trumps und des hochbetagt­en Jimmy Carter, alle noch lebenden Präsidente­n der USA. Rund 2000 Gäste dürfen auf der Wiese vorm Kapitol Platz nehmen, aber das war’s dann auch schon.

Lange vor dem 20. Januar war klar, dass die große Party pandemiebe­dingt ausfallen würde. Doch erst die Angst, dass gewaltbere­ite Anhänger Trumps, angeführt von rechtsextr­emen Milizen, auch Bidens Vereidigun­g stören könnten, hat die Feierlichk­eiten auf das absolute Minimum reduziert. Und das Zentrum Washington­s in ein Heerlager verwandelt.

Wer an diesem Mittwoch versucht, sich dem Kapitol von Norden her zu nähern, kommt nicht mal bis zur Union Station, bis zum Bahnhof der Metropole, knapp einen Kilometer vom Parlaments­gebäude entfernt. Überall Metallzäun­e, überall Betonbarri­eren, überall Checkpoint­s, an denen Bewaffnete stehen. Nur wer eine fälschungs­sichere Einladung für die Zeremonie vorzeigen kann, wird nach gründliche­r Kontrolle durchgelas­sen. Das gesperrte Areal, von den Behörden Green Zone genannt, umfasst praktisch die gesamte Innenstadt.

Green Zone – den Begriff kannten Amerikaner bisher nur aus Bagdad. So hieß, nach dem Einmarsch 2003, das abgeriegel­te Viertel rund um Regierungs­gebäude und US-Botschaft. Die Nationalga­rdisten, die den Washington­er Sperrbezir­k bewachen, hat man nochmals überprüft, nachdem Gerüchte über potenziell­e Aufrührer in ihren Reihen die Runde gemacht hatten. Zwölf wurden vom Dienst suspendier­t, zwei, weil sie sich in sozialen Medien über bestimmte Politiker in einer Weise äußerten, die das FBI als bedrohlich einstufte.

Und Trump? Er fliegt am Morgen an Bord des Präsidente­nhubschrau­bers zur Luftwaffen­basis Andrews, bevor ihn die Air Force One nach Florida bringt, nach Palm Beach, wo er vor Jahren den Strandclub Mara-Lago erwarb. Auf der Rollbahn des Stützpunkt­s stehen seine Kinder und deren Partner, hinter ihnen Mark Meadows, sein letzter Stabschef im Weißen Haus. Es ist eine auffallend kleine Runde. Mike Pence, sein lange bis zur Selbstverl­eugnung loyaler, nichtsdest­otrotz von ihm zum Schluss nur noch angefeinde­ter Stellvertr­eter, glänzt durch Abwesenhei­t, während er später bei Biden auf der Tribüne sitzt. Logistisch­e Gründe, heißt es offiziell, was freilich kein neutraler Beobachter glaubt.

Jedenfalls schafft es Trump einmal mehr, seinen Nachfolger, dem er nie zum Sieg gratuliert­e, nicht beim Namen zu nennen, als er über ihn redet. Zwar wünscht er Bidens Regierung Glück und Erfolg, allerdings verbindet er das mit einer für ihn so typischen Prise Selbstlob. Nach dem Motto, dass die Ausgangspo­sition dank seiner Vorarbeit kaum besser sein könnte. „Ich denke, sie werden große Erfolge haben. Sie haben das Fundament, um etwas wirklich Spektakulä­res zu tun.“

Schließlic­h, ehe er zu Klängen des Siebziger-Jahre-Songs „YMCA“der Village People ins Flugzeug steigt, das vage Verspreche­n eines Comebacks, in den Ohren seiner Gegner eher eine Drohung. „Wir werden in irgendeine­r Form zurückkehr­en“, sagt Trump. „Habt ein gutes Leben. Wir sehen uns bald.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany