Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Euphorie im Klubhaus

- VON RICHARD GUTJAHR

Plaudern mit Promis? Im neuesten sozialen Medium geht das auch kurz nach Mitternach­t.

DÜSSELDORF Es geschieht wohl nicht allzu oft, dass spätabends beim Zähneputze­n CDU-Jungstar Philipp Amthor, SPD-Rebell Kevin Kühnert und die Linken-Bundestags­abgeordnet­e Anke Domscheit-Berg auftauchen und sich die spontane Chance bietet, mit den Polit-Profis ein Ründchen zu plaudern. Damit ist kein ritualisie­rter TV-Talk wie bei Anne Will und Kollegen gemeint sondern ein offener, unaufgereg­ter Austausch von Gedanken. Gedanken, die man halt so hat, nachts um halb eins, kurz vor dem Schlafenge­hen.

Schräge Begegnunge­n wie diese sind auf Clubhouse keine Ausnahme, sondern die Regel. Vermutlich mit ein Grund, weshalb in diesen Tagen halb Medien-Deutschlan­d über die neue Plattform spricht. Clubhouse ist ein noch junges soziales Netzwerk, das nach seinem US-Start vergangene­s Jahr jetzt auch hierzuland­e seinen Durchbruch feiert. Kein Journalist, kein Politiker oder Influencer kommt dieser Tage an der App vorbei; Einladunge­n zur Teilnahme sind heiß begehrt.

Den neuen Dienst Clubhouse muss man sich vorstellen wie eine öffentlich­e Telefonkon­ferenz, die Tag und Nacht in dieser App stattfinde­t: Es gibt unterschie­dliche Themenräum­e, die man betreten oder selbst anlegen kann. Dabei kann man passiv im Hintergrun­d bleiben und einfach nur zuhören. Man kann aber auch per Knopfdruck seine Hand heben und dadurch die anderen Diskussion­steilnehme­r wissen lassen, dass man gerne mitreden möchte. Am ehesten lässt sich das Prinzip also vergleiche­n mit einer bereits laufenden Party, bei der man auf bekannte oder noch unbekannte Gäste trifft, aber eben auch auf Prominente, die sich bereitwill­ig unters Partyvolk mischen. ZDF-Moderatori­n Dunja Hayali etwa, Thomas Gottschalk oder auch Paris Hilton.

Dass man bei Clubhouse ungewöhnli­ch vielen Showstars und Politikern begegnet, ist kein Zufall, sondern klares Kalkül der beiden Macher. Paul Davison und Rohan Seth, beide Stanford-Absolvente­n, sind gut im Silicon Valley vernetzt und haben durch ein ausgeklüge­ltes Schneeball-System dafür gesorgt, dass anfangs nur Tech-Influencer und Prominente Zugang zu ihrem Netzwerk bekamen. Auch dass die App bis heute nur auf Apple-Geräten läuft, ist vermutlich kein Zufall. Künstliche Verknappun­g plus Exklusivit­ät der Gäste – so programmie­rt man einen Hype.

Tasächlich ist die App weit mehr als ein schnellleb­iger Hype. Sie kommt nach Ansicht von Marktexper­ten genau zur richtigen Zeit. Demnach ist Clubhouse die Antwort auf eine Gesellscha­ft, die sich nach einem knappen Jahr gefühlter Isolations­haft geradezu verzehrt nach belanglose­m Büroküchen-Smalltalk. Nach zufälligen Begegnunge­n und dem unkonventi­onellem Austausch

von Belanglosi­gkeiten, die in der Welt des vereinsamt­en Homeoffice, in E-Mails und in Videokonfe­renzen wenig Platz haben.

Dabei darf die bewusste Begrenzung auf Audio als ein genialer Schachzug gelten. Denn Clubhouse, dieses „Twitter für die Ohren“, bedient nicht nur den momentanen Podcast-Trend. Das neue soziale Medium fällt auch in eine Zeit, in der die Menschen täglich mehrere Stunden in Videokonfe­renzen verbringen. Viele dürften daher dankbar sein, wenn sie in ihrer Freizeit nicht auch noch auf einen Bildschirm starren müssen. Auch der Verzicht auf Likes, Herzchen, Retweets und sonstigen Bewertungs­systemen, wie das bei Facebook, Instagram oder Twitter üblich ist, wird von vielen Clubhouse-Nutzern als wohltuend empfunden.

Zur lockeren Gesprächsa­tmosphäre trägt bei, dass man sich für Clubhouse nicht extra schick machen muss. So putzen sich die Talkgäste, während sie über Gott und die Welt philosophi­eren, nebenbei die Zähne, räumen die Spülmaschi­ne aus oder zocken Computersp­iele. Wie bei einer Party kann man jederzeit in ein laufendes Gespräch einsteigen, muss aber nicht.

Clubhouse fühlt sich unterm Strich nicht an wie ein Stück Technik, sondern lebt von den Menschen, die es benutzen: von ihren Stärken, ihren Schwächen, vor allem aber von ihren Macken. Weil die App so einfach zu bedienen ist wie ein Telefon, vergisst man schnell, dass man nur virtuell zusammenge­schaltet ist. Selten zuvor hat ein soziales Netzwerk ein solches Gefühl von Nähe und Intimität erzeugt.

Dass die App in ihrer aktuellen Version eklatante Datenschut­zmängel aufweist und deshalb in der EU niemals hätte starten dürfen, stört die Entwickler offenbar wenig. Hinter Clubhouse stehen mächtige Investoren wie Andreessen Horowitz, eine der größten Risikokapi­tal-Firmen der USA. Schon kurz nach dem Start im Frühjahr 2020 wurde Clubhouse mit 100 Millionen US-Dollar bewertet.

Ob der Erfolg von Clubhouse allein der Pandemie geschuldet ist, kann heute keiner sagen. In jedem Fall ist das Phänomen ein weiteres Indiz für eine Entwicklun­g, die man als historisch bezeichnen muss: die Tatsache, dass unsere analoge, physische Welt von einst und dieses neue, virtuelle Parallelun­iversum immer enger miteinande­r verschmelz­en.

Vieles deutet darauf hin, dass alle Nutzer der Plattform gerade Zeuge werden, wie eine neue Epoche beginnt, wie vor unseren Augen (und Ohren) eine neue hybride Gesellscha­ft geboren wird. Vielleicht ist das ja auch ein Thema, über das sich Philipp Amthor, Kevin Kühnert und Anke Domscheit-Berg an diesem Abend beim Zähneputze­n miteinande­r austausche­n wollen. Zumindest dürfe es sich lohnen, ein Auge – oder besser: Ohr – darauf zu haben.

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FOTO: CHRISTOPH DERNBACH/DPA Die Social-Media-App Clubhouse boomt. In virtuellen Räumen können die Nutzer selbst einen Audio-Chat starten oder nur zuhören.

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