Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Euphorie im Klubhaus
Plaudern mit Promis? Im neuesten sozialen Medium geht das auch kurz nach Mitternacht.
DÜSSELDORF Es geschieht wohl nicht allzu oft, dass spätabends beim Zähneputzen CDU-Jungstar Philipp Amthor, SPD-Rebell Kevin Kühnert und die Linken-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg auftauchen und sich die spontane Chance bietet, mit den Polit-Profis ein Ründchen zu plaudern. Damit ist kein ritualisierter TV-Talk wie bei Anne Will und Kollegen gemeint sondern ein offener, unaufgeregter Austausch von Gedanken. Gedanken, die man halt so hat, nachts um halb eins, kurz vor dem Schlafengehen.
Schräge Begegnungen wie diese sind auf Clubhouse keine Ausnahme, sondern die Regel. Vermutlich mit ein Grund, weshalb in diesen Tagen halb Medien-Deutschland über die neue Plattform spricht. Clubhouse ist ein noch junges soziales Netzwerk, das nach seinem US-Start vergangenes Jahr jetzt auch hierzulande seinen Durchbruch feiert. Kein Journalist, kein Politiker oder Influencer kommt dieser Tage an der App vorbei; Einladungen zur Teilnahme sind heiß begehrt.
Den neuen Dienst Clubhouse muss man sich vorstellen wie eine öffentliche Telefonkonferenz, die Tag und Nacht in dieser App stattfindet: Es gibt unterschiedliche Themenräume, die man betreten oder selbst anlegen kann. Dabei kann man passiv im Hintergrund bleiben und einfach nur zuhören. Man kann aber auch per Knopfdruck seine Hand heben und dadurch die anderen Diskussionsteilnehmer wissen lassen, dass man gerne mitreden möchte. Am ehesten lässt sich das Prinzip also vergleichen mit einer bereits laufenden Party, bei der man auf bekannte oder noch unbekannte Gäste trifft, aber eben auch auf Prominente, die sich bereitwillig unters Partyvolk mischen. ZDF-Moderatorin Dunja Hayali etwa, Thomas Gottschalk oder auch Paris Hilton.
Dass man bei Clubhouse ungewöhnlich vielen Showstars und Politikern begegnet, ist kein Zufall, sondern klares Kalkül der beiden Macher. Paul Davison und Rohan Seth, beide Stanford-Absolventen, sind gut im Silicon Valley vernetzt und haben durch ein ausgeklügeltes Schneeball-System dafür gesorgt, dass anfangs nur Tech-Influencer und Prominente Zugang zu ihrem Netzwerk bekamen. Auch dass die App bis heute nur auf Apple-Geräten läuft, ist vermutlich kein Zufall. Künstliche Verknappung plus Exklusivität der Gäste – so programmiert man einen Hype.
Tasächlich ist die App weit mehr als ein schnelllebiger Hype. Sie kommt nach Ansicht von Marktexperten genau zur richtigen Zeit. Demnach ist Clubhouse die Antwort auf eine Gesellschaft, die sich nach einem knappen Jahr gefühlter Isolationshaft geradezu verzehrt nach belanglosem Büroküchen-Smalltalk. Nach zufälligen Begegnungen und dem unkonventionellem Austausch
von Belanglosigkeiten, die in der Welt des vereinsamten Homeoffice, in E-Mails und in Videokonferenzen wenig Platz haben.
Dabei darf die bewusste Begrenzung auf Audio als ein genialer Schachzug gelten. Denn Clubhouse, dieses „Twitter für die Ohren“, bedient nicht nur den momentanen Podcast-Trend. Das neue soziale Medium fällt auch in eine Zeit, in der die Menschen täglich mehrere Stunden in Videokonferenzen verbringen. Viele dürften daher dankbar sein, wenn sie in ihrer Freizeit nicht auch noch auf einen Bildschirm starren müssen. Auch der Verzicht auf Likes, Herzchen, Retweets und sonstigen Bewertungssystemen, wie das bei Facebook, Instagram oder Twitter üblich ist, wird von vielen Clubhouse-Nutzern als wohltuend empfunden.
Zur lockeren Gesprächsatmosphäre trägt bei, dass man sich für Clubhouse nicht extra schick machen muss. So putzen sich die Talkgäste, während sie über Gott und die Welt philosophieren, nebenbei die Zähne, räumen die Spülmaschine aus oder zocken Computerspiele. Wie bei einer Party kann man jederzeit in ein laufendes Gespräch einsteigen, muss aber nicht.
Clubhouse fühlt sich unterm Strich nicht an wie ein Stück Technik, sondern lebt von den Menschen, die es benutzen: von ihren Stärken, ihren Schwächen, vor allem aber von ihren Macken. Weil die App so einfach zu bedienen ist wie ein Telefon, vergisst man schnell, dass man nur virtuell zusammengeschaltet ist. Selten zuvor hat ein soziales Netzwerk ein solches Gefühl von Nähe und Intimität erzeugt.
Dass die App in ihrer aktuellen Version eklatante Datenschutzmängel aufweist und deshalb in der EU niemals hätte starten dürfen, stört die Entwickler offenbar wenig. Hinter Clubhouse stehen mächtige Investoren wie Andreessen Horowitz, eine der größten Risikokapital-Firmen der USA. Schon kurz nach dem Start im Frühjahr 2020 wurde Clubhouse mit 100 Millionen US-Dollar bewertet.
Ob der Erfolg von Clubhouse allein der Pandemie geschuldet ist, kann heute keiner sagen. In jedem Fall ist das Phänomen ein weiteres Indiz für eine Entwicklung, die man als historisch bezeichnen muss: die Tatsache, dass unsere analoge, physische Welt von einst und dieses neue, virtuelle Paralleluniversum immer enger miteinander verschmelzen.
Vieles deutet darauf hin, dass alle Nutzer der Plattform gerade Zeuge werden, wie eine neue Epoche beginnt, wie vor unseren Augen (und Ohren) eine neue hybride Gesellschaft geboren wird. Vielleicht ist das ja auch ein Thema, über das sich Philipp Amthor, Kevin Kühnert und Anke Domscheit-Berg an diesem Abend beim Zähneputzen miteinander austauschen wollen. Zumindest dürfe es sich lohnen, ein Auge – oder besser: Ohr – darauf zu haben.