Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Haal“war immer am Puls des Dorfes

1988 schlossen das Gasthaus und der angeschlos­sene Kolonialwa­renladen im Dorfzentru­m von Uedemerbru­ch. Die Anekdoten aber blieben. Elmar Haal erinnert sich an einen Ort, an dem jeder Berufsstan­d seinen eigenen Tisch hatte.

- VON MAARTEN OVERSTEEGE­N

KLEVE/UEDEMERBRU­CH Elmar Haal vermisst die ehemalige Kneipe seiner Eltern nicht wirklich, versichert er. Für den 63-jährigen Sozialpäda­gogen sei es auch nie in Frage gekommen, die Schenke eines Tages zu übernehmen. Und dennoch erinnert er sich gerne an seine Kindheit zwischen Tresen, Zapfhahn, konservati­vem Brauchtum und Tante-Käthe-Laden. „Die Gäste hatten für meine Eltern immer Vorrang. In unserem Haus wurde Öffentlich­es und Privates regelmäßig vermischt. Kurzerhand wurde das Wohnzimmer gerne mal zum Saal umfunktion­iert. Wohl auch deshalb sind dort die wunderbars­ten Geschichte­n entstanden“, sagt Haal, der heute im Klever Ortsteil Keeken wohnt. Das Gasthaus an der Dorfstraße in Uedemerbru­ch schloss im Jahr 1988. Seitdem befindet sich an der Stelle auch keine Kneipe mehr, die Gaststätte im Dorfkern wurde zum Wohnraum umgestalte­t.

Wenige Monate nach dem Tod von Elmar Haals Vater Theodor im Jahr 1987 fand die Geschichte des Gasthauses „Haal“ein Ende. Theodor hatte den Betrieb 1939 von Wilhelm Haal übernommen. „Die Gaststätte war immer ein Familienbe­trieb“, sagt Elmar Haal. 1897 war das Haus direkt gegenüber der Kirche sowie der alten Grundschul­e von Uedemerbru­ch erbaut worden. Ein strategisc­her Vorteil, wie sich recht schnell herausstel­len sollte. „Damals ging das Dorf noch geschlosse­n zum Gottesdien­st. Und im Anschluss ging es eben in die Kneipen“, sagt Elmar Haal.

Davon gab es damals fünf, von denen heute noch immer vier existieren: die Gaststätte Paal, das Haus Nachtigall-Heukens, die Gaststätte Praest sowie das Ausflugslo­kal Villa Reichswald. „Die Infrastruk­tur der Kneipen ist für ein 500-Einwohner-Dorf wie Uedemerbru­ch noch immer sehr gut“, sagt Haal. Schon nach der Frühmesse um 7 Uhr seien die Männer damals von der Kirche aus in Richtung Kneipe gelaufen. Dort sei dann ganz klar gewesen, wer wo sitzt. Die Landwirte saßen in einer Runde, hinzu gesellen durften sich eigentlich nur Selbststän­dige oder der Pastor. Auch die Junglandwi­rte hatten ihren eigenen Tisch, die Männer der umliegende­n

Schuhfabri­ken nahmen wiederum an der Theke Platz. „Die Landwirte waren sehr wichtige Gäste, die man auf keinen Fall verärgern durfte. Sie wurden daher auch ausschließ­lich von meinem Vater bedient, der genau wusste, was die Männer wollten“, sagt Elmar Haal. Sie bekamen Altbier und Schnäpse, dazu gab es deftige Zigarren.

Und die Frauen? Die durften damals noch nicht in der Gaststätte Platz nehmen. Dort saßen nur die Männer. „Für sie wurde dann häufig unser Wohnzimmer geöffnet. Sie tranken Kaffee und Kirschschn­aps“, erinnert sich der 63-Jährige. Auch Elmar Haal musste als Jugendlich­er bereits mitanpacke­n. Damals aber fiel er noch mit schulterla­ngen Haaren auf, im konservati­ven Uedemerbru­ch

ein Hingucker. „Da bekam ich häufig den Spruch zu hören: ´Das sind schöne Haare, wenn sie denn gepflegt sind´“.

Deutlich lieber erinnert sich Haal dahingegen aber an die vielen Bälle, die im 1956 angebauten Saal der Gaststätte stattfande­n – etwa nach dem Königsschi­eßen, zu Karneval oder Sankt Martin. Auch Live-Musik-Abende habe es immer wieder gegeben, die Jugend traf sich in der Gaststätte. Sogar telefonier­en konnten Gäste an der Dorfstraße, auf dem kleinen Fernseher lief die Sportschau. Gemeinsam verfolgten die Kneipengän­ger gar die Weltmeiste­rschaft 1966 in England. Beerdigung­en und Hochzeiten standen beinahe wöchentlic­h auf dem Programm.

„Die Dorfgastst­ätte ist in meinen Augen keine Kneipe. Wir waren eher ein Gemeinscha­ftszentrum fürs Dorf. Bis heute sind solche Anlaufstel­len und die Dorfritual­e wichtig“, sagt er. In der Gaststätte, die inmitten einer christdemo­kratischen Hochburg mit Wahlergebn­issen von bis zu 70 Prozent sogar als Wahllokal fungierte, kam der wichtigste Klatsch und Tratsch der Dorfbewohn­er auf den Tisch – und zwar auf Platt. „Hochdeutsc­h wurde in der Gaststätte grundsätzl­ich nicht gesprochen“, sagt Haal. Katharina Haal führte den Kolonialwa­renladen – und war für viele Gäste wie eine Mutter. „Wenn die Männer zu viel getrunken hatten, nahm sie ihnen die Autoschlüs­sel weg. Das sorgte immer für Tumulte. Doch dann setzte sie sich durch, und der Gast musste nach Hause laufen. Am nächsten Tag durfte er sein Auto dann wieder abholen. So lief es in vielen Gaststätte­n ab“, sagt Haal. Auch solche Anekdoten seien wohl typisch für das Dorfleben – und heute eher undenkbar. Ähnlich unvorstell­bar erscheint es aus heutiger Perspektiv­e, dass das Gasthaus keine Öffnungsze­iten hatte. „Die Leute wussten, wann sie kommen sollten. Und außer am Ersten Weihnachts­tag hatten wir nie geschlosse­n“, sagt Elmar Haal, der in Köln studiert hat – weit weg von Uedemerbru­ch, aber Kneipen gab’s auch.

Mit der Eröffnung des ersten Plus-Ladens in Uedem verlor der Kolonialwa­renladen zusehends an Bedeutung. „Die Kunden kauften nur noch das bei uns ein, was sie in Uedem vergessen hatten“, sagt Haal. Schließlic­h sei das Sortiment seiner Mutter vergleichs­weise übersichtl­ich gewesen. „Meine Mutter wusste, was die Leute wollten. Aber es gab eben auch nur eine Sorte Käse und nur eine Sorte Wurst“, erinnert sich Haal. Mit dem Tod des Vaters dann wurde der gesamte Betrieb aufgegeben. Doch nicht nur die Erinnerung­en an das Gasthaus sind geblieben. Das gesamte Interieur nämlich fand den Weg in ein Museum in Grefrath – und steht dort stellvertr­etend für die Kneipenkul­tur auf dem Land. Das auffälligs­te Stück der Ausstellun­g ist übrigens die Theke. Dort sind bis heute Einschussl­öcher erkennbar. Offenbar hatten sich Soldaten einst einen Spaß daraus gemacht, in die Holzverkle­idung zu schießen. Eine Kneipe steckt eben voller Geschichte.

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RP-FOTO: MARKUS VAN OFFERN Diese Aufzeichnu­ngen verstanden vermutlich nur die Wirtsleute selbst
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RP-FOTOS: MARKUS VAN OFFERN Nach der Kirche in die Gaststätte – so war das auf dem Dorf. Und der Pastor kam auf ein Bier gerne dazu. Das linke Foto zeigt Elmar Haal und seine Erinnerung­sfotos.
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