Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Es hakt noch
Vor den Weihnachtsferien war für viele Jahrgangsstufen wieder Schluss. Der Lockdown schickte Schüler und Lehrer in den zweiten Ausnahmezustand. Die Dauer ist nicht absehbar. Das digitale Lernen auf Distanz hat sich an einigen Stellen verbessert, an vielen nicht. Die richtige Lernplattform ist mitentscheidend für guten Unterricht.
KLEVERLAND Es ist 7.50 Uhr, und Leon* liegt noch im Bett. In zehn Minuten beginnt für ihn die Schule. Doch bleibt der 17-Jährige entspannt. Fernunterricht hat auch angenehme Seiten. Gesehen werden Leon und sein Umfeld während der Stunde nicht. „Wir müssen zu Beginn einmal kurz unser Gesicht zeigen, damit der Lehrer weiß, dass wird da sind“, sagt er. Wer will, könne danach eigentlich machen, wozu er Lust hat, so Leon. Der 17-Jährige bleibt dran. Er besucht die Qualifikationsstufe 1 (Q 1) eines Gymnasiums. Klausuren werden in dieser Jahrgangsstufe in der Schule geschrieben. „Wer während des Unterrichts andere Termine hat, bekommt die Quittung, wenn die Arbeit zurückgegeben wird.“Aktiv an der Schulstunde teilnehmen, ist auch möglich. Mit einer Taste kann man sich bei den Lehrkräften melden. Leon hat keine Schwierigkeiten mit dem Lernen auf Distanz. Auch weil er die notwendigen technischen Voraussetzungen hat. „Ich finde, dass es besser läuft als noch im Frühjahr“, sagt er. Im ersten Lockdown boten weniger Lehrer Videokonferenzen an. Nun hält diese Form des Distanzunterrichts langsam Einzug in den Homeschooling-Alltag.
Am Klever Freiherr-vom-Stein-Gymnasium wird derzeit die Lernplattform getauscht. Bislang wurde über das Internetkonferenzund Lernsystem mit dem Namen BigBlueButton unterrichtet. „Das Land hatte immer ein Videoportal angekündigt, was jedoch nicht kam. Unser aktuelles System arbeitet nicht zufriedenstellend. Videokonferenzen gestalten sich über ein anderes Portal zuverlässiger“, sagt Timo Bleisteiner, Leiter des Gymnasiums. Zu häufig brechen die Verbindungen zusammen. Die Lehrer sehen zwar Fortschritte, doch kämpfen sie teils noch mit gravierenden technischen Problemen, so der Schulleiter. Bleisteiner versichert erneut, dass die Kollegen sich größte Mühe geben, den Unterricht weiter zu sichern und bei Fragen ansprechbar zu sein. „Vieles gelingt dabei gut, und die Rückmeldungen sind auch vielfach positiv und konstruktiv“, betont der Oberstudiendirektor.
Digitales Lernen funktioniert nur über bestimmte Plattformen gut. Andere bringen den Server zum Absturz, weil sich zu viele Schüler gleichzeitig darauf bewegen. Jahrelang ist auf dem Gebiet nichts passiert. Da reichen ein paar Monate nicht aus, um den Rückstand aufzuholen.
„Es sind nicht allein technische Herausforderungen, die von Kindern, Eltern und Pädagogen bewältigt werden müssen. Viele Schüler schreiben uns, dass sie gerne wiederkommen würden“, betont Bleisteiner. Doch die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr ist derzeit Wunschdenken. Positiv gelaufen sei die Ausgabe der Ipads, so der Schulleiter. Die Stadt Kleve habe erlaubt, diese an Schüler auszugeben, die noch kein Endgerät haben. „Alle Kinder sind jetzt digital erreichbar. Das ist ein Vorteil gegenüber dem ersten Lockdown.“200 der Tabletcomputer hatte das Stein bekommen. Für sozial schwächere Familien ein Segen.
Dunja Übach ist Vorsitzende der Klever Stadtschulpflegschaft. Sie hat bisher noch keine Rückmeldungen von den Schulen erhalten, was den Distanzunterricht betrifft. „Für mich ist es auch noch zu früh, um ein Fazit zu ziehen und Änderungen zu fordern“, sagt sie. Was derzeit wieder stört, ist der fehlende Breitbandausbau, der in Kleve nicht voran kommt. „Jetzt könnten die Lehrer hervorragend ein Smartboard für den Distanzunterricht einsetzen“, sagt Übach. Die Schulen sind mit den digitalen Tafeln ausgestattet worden, die auch über eine Kamera verfügen. „Nur was nutzt das? Wenn in zehn Klassen über die Smartboards unterrichtet wird, würde das Netz sofort zusammenbrechen“, erklärt die Pflegschaftsvorsitzende. Geld sei hier nicht das Problem, sondern die verschlafene Anbindung an ein leistungsstärkeres Netz.
Eine andere Herausforderung sei die Situation der Pädagogen, so Übach. „Für Lehrer werden Schulungen im Hinblick auf die neuen Unterrichtsformen notwendig sein. Das hätte in dem halben Jahr Pause laufen müssen. Nur bis da in Kursen Plätze frei werden, das kann dauern.“Für die Anschaffung der Geräte ist der Schulträger verantwortlich. Die Kommune hat aber keinen Einfluss darauf, dass entsprechende Schulungen stattfinden. Denn die Lehrer sind Landesbedienstete. Für Übach gehören die Seminare dringend in den Lehrplan.
Die Fortbildung von Pädagogen ist auch nach Ansicht von Fachleuten dringend erforderlich. So bewertet Benjamin Heindl die Situation. Heindl ist Geschäftsführer des privaten Unternehmens IServ. Die Firma verkauft unter anderem kostenpflichtige Schulnetzwerke inklusive Webportale. 4500 Bildungseinrichtungen nutzen derzeit Angebote des Unternehmens aus Braunschweig. Heindl erklärt: „Unter Pädagogen ist die Hemmschwelle gegenüber der neuen Unterrichtsform in der digitalen Welt groß. Was auch daran liegt, dass Schüler ihnen gegenüber einen kaum aufzuholenden Wissensvorsprung haben. Sie können die digitalen Werkzeuge viel besser nutzen, weil sie mit der digitalen Welt aufgewachsen sind.“
Schwarz auf weiß hat Christoph
Peters, Leiter des Städtischen Gymnasiums Goch, die Beurteilung seiner Schüler im Hinblick auf das digitale Lernen vor sich auf seinem Schreibtisch liegen. „Wir haben eine Umfrage gestartet, an der 50 Prozent unserer Schüler teilgenommen haben“, sagt der Oberstudiendirektor. Das Bild sei positiv, Schwierigkeiten gebe es allein, wenn die Technik nicht laufe. Doch sei man in diesem Punkt weiter als im Frühjahr. Einräumen musste Peters, dass Schüler zweifellos einen technischen Vorsprung gegenüber dem einen oder anderen Kollegen haben. „Das ist eine Generationsfrage“, sagt der Oberstudiendirektor.
In der Klever Karl-Kisters-Realschule funktioniert laut Elternvertreter Oliver van Well das Lernen auf Distanz blendend. „Es hat gegenüber der vergangenen Schulschließung eine Professionalisierung stattgefunden“, lobt der Elternsprecher. Die Pädagogen sind nach seiner Darstellung hier offenbar nahezu rund um die Uhr beschäftigt und legen besonders viel Wert auf den persönlichen Kontakt. Gleich mehrmals am Tage würden sie zu Hause anrufen, wenn etwa Aufgaben nicht rechtzeitig abgegeben wurden oder einfach nur, um zu fragen wie es geht, so van Well. Die Behauptung, die Corona-Krise habe die Digitalisierung der Schulen voran gebracht, sieht auch van Well so. „Ich glaube nicht, dass ohne die Pandemie jetzt in den Klassenzimmern Whiteboards hängen würden.“Doch sei es mit dem Aufhängen von interaktiven Tafeln nicht getan. Digitalisierung sei nicht nur einen Computer kaufen. „Die ganze Peripherie muss geschaffen werden. Leistungsstarkes Internet, Schulung, technische Unterstützung, da ist noch nicht viel passiert“, weiß van Well.
Was die technischen Probleme beim Start in den Distanzunterricht betrifft, so erhalten Schulen Zustimmung von nationaler Ebene. Marlis Tepe, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), bemängelt, dass die Politik das Thema Digitalisierung in den Schulen verschlafen habe. „Es ruckelt gewaltig. Viele Lernplattformen und Server halten den Zugriffen nicht stand“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Die Politik hätte den Distanz- und Wechselunterricht besser vorbereiten müssen, so Tepe. „Stattdessen haben die Minister sich auf die Option konzentriert, die für sie selbst mit am wenigsten Arbeit verbunden war. Auf die Hoffnung, dass es mit dem Präsenzunterricht schon irgendwie klappt. Das war fahrlässig“, so ihr Vorwurf.
Was Grundschulen betrifft, läuft hier in etwa so viel digitaler Unterricht wie vor dem Lockdown – nämlich kaum einer. Das bestätigen Leiterinnen von Primarschulen unserer Redaktion. Die meisten beschränken sich auf die Ausgabe von Arbeitsblättern, die zu einem festen Zeitpunkt wieder abgegeben werden müssen. Gleichzeitig bekommen die Kinder die nächsten Aufgaben mit. Eine Rektorin erklärte: „Wir hatten noch keine Möglichkeit, uns gemeinsam auf einen digitalen Unterricht vorzubereiten. Dafür müssen Tabletts und technische Voraussetzungen da sein. Die Kinder sollten jedoch zumindest auch lernen, wie man einen Stift richtig hält.“
* Name von der Redaktion geändert.