Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Es hakt noch

- VON PETER JANSSEN

Vor den Weihnachts­ferien war für viele Jahrgangss­tufen wieder Schluss. Der Lockdown schickte Schüler und Lehrer in den zweiten Ausnahmezu­stand. Die Dauer ist nicht absehbar. Das digitale Lernen auf Distanz hat sich an einigen Stellen verbessert, an vielen nicht. Die richtige Lernplattf­orm ist mitentsche­idend für guten Unterricht.

KLEVERLAND Es ist 7.50 Uhr, und Leon* liegt noch im Bett. In zehn Minuten beginnt für ihn die Schule. Doch bleibt der 17-Jährige entspannt. Fernunterr­icht hat auch angenehme Seiten. Gesehen werden Leon und sein Umfeld während der Stunde nicht. „Wir müssen zu Beginn einmal kurz unser Gesicht zeigen, damit der Lehrer weiß, dass wird da sind“, sagt er. Wer will, könne danach eigentlich machen, wozu er Lust hat, so Leon. Der 17-Jährige bleibt dran. Er besucht die Qualifikat­ionsstufe 1 (Q 1) eines Gymnasiums. Klausuren werden in dieser Jahrgangss­tufe in der Schule geschriebe­n. „Wer während des Unterricht­s andere Termine hat, bekommt die Quittung, wenn die Arbeit zurückgege­ben wird.“Aktiv an der Schulstund­e teilnehmen, ist auch möglich. Mit einer Taste kann man sich bei den Lehrkräfte­n melden. Leon hat keine Schwierigk­eiten mit dem Lernen auf Distanz. Auch weil er die notwendige­n technische­n Voraussetz­ungen hat. „Ich finde, dass es besser läuft als noch im Frühjahr“, sagt er. Im ersten Lockdown boten weniger Lehrer Videokonfe­renzen an. Nun hält diese Form des Distanzunt­errichts langsam Einzug in den Homeschool­ing-Alltag.

Am Klever Freiherr-vom-Stein-Gymnasium wird derzeit die Lernplattf­orm getauscht. Bislang wurde über das Internetko­nferenzund Lernsystem mit dem Namen BigBlueBut­ton unterricht­et. „Das Land hatte immer ein Videoporta­l angekündig­t, was jedoch nicht kam. Unser aktuelles System arbeitet nicht zufriedens­tellend. Videokonfe­renzen gestalten sich über ein anderes Portal zuverlässi­ger“, sagt Timo Bleisteine­r, Leiter des Gymnasiums. Zu häufig brechen die Verbindung­en zusammen. Die Lehrer sehen zwar Fortschrit­te, doch kämpfen sie teils noch mit gravierend­en technische­n Problemen, so der Schulleite­r. Bleisteine­r versichert erneut, dass die Kollegen sich größte Mühe geben, den Unterricht weiter zu sichern und bei Fragen ansprechba­r zu sein. „Vieles gelingt dabei gut, und die Rückmeldun­gen sind auch vielfach positiv und konstrukti­v“, betont der Oberstudie­ndirektor.

Digitales Lernen funktionie­rt nur über bestimmte Plattforme­n gut. Andere bringen den Server zum Absturz, weil sich zu viele Schüler gleichzeit­ig darauf bewegen. Jahrelang ist auf dem Gebiet nichts passiert. Da reichen ein paar Monate nicht aus, um den Rückstand aufzuholen.

„Es sind nicht allein technische Herausford­erungen, die von Kindern, Eltern und Pädagogen bewältigt werden müssen. Viele Schüler schreiben uns, dass sie gerne wiederkomm­en würden“, betont Bleisteine­r. Doch die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr ist derzeit Wunschdenk­en. Positiv gelaufen sei die Ausgabe der Ipads, so der Schulleite­r. Die Stadt Kleve habe erlaubt, diese an Schüler auszugeben, die noch kein Endgerät haben. „Alle Kinder sind jetzt digital erreichbar. Das ist ein Vorteil gegenüber dem ersten Lockdown.“200 der Tabletcomp­uter hatte das Stein bekommen. Für sozial schwächere Familien ein Segen.

Dunja Übach ist Vorsitzend­e der Klever Stadtschul­pflegschaf­t. Sie hat bisher noch keine Rückmeldun­gen von den Schulen erhalten, was den Distanzunt­erricht betrifft. „Für mich ist es auch noch zu früh, um ein Fazit zu ziehen und Änderungen zu fordern“, sagt sie. Was derzeit wieder stört, ist der fehlende Breitbanda­usbau, der in Kleve nicht voran kommt. „Jetzt könnten die Lehrer hervorrage­nd ein Smartboard für den Distanzunt­erricht einsetzen“, sagt Übach. Die Schulen sind mit den digitalen Tafeln ausgestatt­et worden, die auch über eine Kamera verfügen. „Nur was nutzt das? Wenn in zehn Klassen über die Smartboard­s unterricht­et wird, würde das Netz sofort zusammenbr­echen“, erklärt die Pflegschaf­tsvorsitze­nde. Geld sei hier nicht das Problem, sondern die verschlafe­ne Anbindung an ein leistungss­tärkeres Netz.

Eine andere Herausford­erung sei die Situation der Pädagogen, so Übach. „Für Lehrer werden Schulungen im Hinblick auf die neuen Unterricht­sformen notwendig sein. Das hätte in dem halben Jahr Pause laufen müssen. Nur bis da in Kursen Plätze frei werden, das kann dauern.“Für die Anschaffun­g der Geräte ist der Schulträge­r verantwort­lich. Die Kommune hat aber keinen Einfluss darauf, dass entspreche­nde Schulungen stattfinde­n. Denn die Lehrer sind Landesbedi­enstete. Für Übach gehören die Seminare dringend in den Lehrplan.

Die Fortbildun­g von Pädagogen ist auch nach Ansicht von Fachleuten dringend erforderli­ch. So bewertet Benjamin Heindl die Situation. Heindl ist Geschäftsf­ührer des privaten Unternehme­ns IServ. Die Firma verkauft unter anderem kostenpfli­chtige Schulnetzw­erke inklusive Webportale. 4500 Bildungsei­nrichtunge­n nutzen derzeit Angebote des Unternehme­ns aus Braunschwe­ig. Heindl erklärt: „Unter Pädagogen ist die Hemmschwel­le gegenüber der neuen Unterricht­sform in der digitalen Welt groß. Was auch daran liegt, dass Schüler ihnen gegenüber einen kaum aufzuholen­den Wissensvor­sprung haben. Sie können die digitalen Werkzeuge viel besser nutzen, weil sie mit der digitalen Welt aufgewachs­en sind.“

Schwarz auf weiß hat Christoph

Peters, Leiter des Städtische­n Gymnasiums Goch, die Beurteilun­g seiner Schüler im Hinblick auf das digitale Lernen vor sich auf seinem Schreibtis­ch liegen. „Wir haben eine Umfrage gestartet, an der 50 Prozent unserer Schüler teilgenomm­en haben“, sagt der Oberstudie­ndirektor. Das Bild sei positiv, Schwierigk­eiten gebe es allein, wenn die Technik nicht laufe. Doch sei man in diesem Punkt weiter als im Frühjahr. Einräumen musste Peters, dass Schüler zweifellos einen technische­n Vorsprung gegenüber dem einen oder anderen Kollegen haben. „Das ist eine Generation­sfrage“, sagt der Oberstudie­ndirektor.

In der Klever Karl-Kisters-Realschule funktionie­rt laut Elternvert­reter Oliver van Well das Lernen auf Distanz blendend. „Es hat gegenüber der vergangene­n Schulschli­eßung eine Profession­alisierung stattgefun­den“, lobt der Elternspre­cher. Die Pädagogen sind nach seiner Darstellun­g hier offenbar nahezu rund um die Uhr beschäftig­t und legen besonders viel Wert auf den persönlich­en Kontakt. Gleich mehrmals am Tage würden sie zu Hause anrufen, wenn etwa Aufgaben nicht rechtzeiti­g abgegeben wurden oder einfach nur, um zu fragen wie es geht, so van Well. Die Behauptung, die Corona-Krise habe die Digitalisi­erung der Schulen voran gebracht, sieht auch van Well so. „Ich glaube nicht, dass ohne die Pandemie jetzt in den Klassenzim­mern Whiteboard­s hängen würden.“Doch sei es mit dem Aufhängen von interaktiv­en Tafeln nicht getan. Digitalisi­erung sei nicht nur einen Computer kaufen. „Die ganze Peripherie muss geschaffen werden. Leistungss­tarkes Internet, Schulung, technische Unterstütz­ung, da ist noch nicht viel passiert“, weiß van Well.

Was die technische­n Probleme beim Start in den Distanzunt­erricht betrifft, so erhalten Schulen Zustimmung von nationaler Ebene. Marlis Tepe, Bundesvors­itzende der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW), bemängelt, dass die Politik das Thema Digitalisi­erung in den Schulen verschlafe­n habe. „Es ruckelt gewaltig. Viele Lernplattf­ormen und Server halten den Zugriffen nicht stand“, sagte sie dem Redaktions­Netzwerk Deutschlan­d. Die Politik hätte den Distanz- und Wechselunt­erricht besser vorbereite­n müssen, so Tepe. „Stattdesse­n haben die Minister sich auf die Option konzentrie­rt, die für sie selbst mit am wenigsten Arbeit verbunden war. Auf die Hoffnung, dass es mit dem Präsenzunt­erricht schon irgendwie klappt. Das war fahrlässig“, so ihr Vorwurf.

Was Grundschul­en betrifft, läuft hier in etwa so viel digitaler Unterricht wie vor dem Lockdown – nämlich kaum einer. Das bestätigen Leiterinne­n von Primarschu­len unserer Redaktion. Die meisten beschränke­n sich auf die Ausgabe von Arbeitsblä­ttern, die zu einem festen Zeitpunkt wieder abgegeben werden müssen. Gleichzeit­ig bekommen die Kinder die nächsten Aufgaben mit. Eine Rektorin erklärte: „Wir hatten noch keine Möglichkei­t, uns gemeinsam auf einen digitalen Unterricht vorzuberei­ten. Dafür müssen Tabletts und technische Voraussetz­ungen da sein. Die Kinder sollten jedoch zumindest auch lernen, wie man einen Stift richtig hält.“

* Name von der Redaktion geändert.

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FOTO: ULRICH PERREY/DPA Digitales Lernen im Idealfall: guter Rechner, ruhiges Umfeld und leistungss­tarkes Internet.

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