Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Der Preis des Brexit

- VON JOCHEN WITTMANN

Der Warenstrom zwischen der EU und Großbritan­nien versiegt. Das liegt vor allem an hohen bürokratis­chen Hürden.

LONDON Beschlagna­hmte Schinkenst­ullen, verrottend­e Schweinehä­lften, Meeresfrüc­hte, die vergammeln: Die unschönen Folgen des Brexit stinken zum Himmel. Am 1. Januar begann für Großbritan­nien und die Europäisch­e Union ein neues Handelsreg­ime. Kaum einen Monat später wird deutlich, dass der Warenverke­hr alles andere als reibungslo­s läuft. Die Tatsache, dass das Königreich für die EU jetzt zum Drittland geworden ist, führt zu zahlreiche­n Problemen für die britische Wirtschaft.

Der britische Premiermin­ister Boris Johnson hatte nach den Verhandlun­gen am Jahresende seiner Nation noch versichert: „Es wird keine nicht-tarifären Handelshem­mnisse geben.“Wie falsch er lag. Genau das ist jetzt das große Problem für die britische Volkswirts­chaft: Handelshem­mnisse auf breiter Front. Zwar müssen grundsätzl­ich keine Zölle bezahlt und Kontingent­e eingehalte­n werden, aber dafür gibt es von nun an eine labyrinthi­sch anmutende Bürokratie zu beachten: Ausfuhrerk­lärungen, Herkunftsn­achweise, Atteste, Sicherheit­sdeklarati­onen, Warencodes, Lieferante­n-Statements, Gesundheit­szeugnisse und einiges mehr. Das einen Papierkrie­g zu nennen, wäre untertrieb­en.

Bei der Einfuhr von Tier- und Pflanzenpr­odukten in die EU gelten strenge Vorschrift­en. „Willkommen beim Brexit“, begründete ein niederländ­ischer Zollbeamte­r die Beschlagna­hmung einer Schinkenst­ulle, die ein britischer Lkw-Fahrer im Fährhafen Hoek van Holland „einschmugg­eln“wollte. Währenddes­sen verrotten in Rotterdam Tonnen von Schweinefl­eisch, weil der britische Exporteur die Ausfuhrfor­mulare nicht korrekt ausgefüllt hatte. Schlimm trifft es auch die schottisch­en Fischer, die ihren leicht verderblic­hen Fang an Schalen- und Krustentie­ren aufgrund der bürokratis­chen Vorschrift­en nicht rechtzeiti­g an ihre französisc­hen Abnehmer liefern können. Als Protest schickten sie fünf riesige Sattelschl­epper nach London, die in der Regierungs­zentrale den Verkehr lahmlegten. Sie trugen die Aufschrift: „Die inkompeten­te Regierung zerstört unsere Fischerei“. Gerade die Fischer, die zu den enthusiast­ischsten Brexit-Fans gehören, fühlen sich jetzt verraten und verkauft.

Beide Seiten haben noch nicht gelernt, wie sie durch das komplizier­te System der Zollerklär­ungen navigieren sollen. Einer der größten Spediteure Deutschlan­ds hat deswegen vorerst den Lieferverk­ehr ins Königreich gestoppt. Der Logistikko­nzern DB Schenker nimmt bis auf Weiteres keine Fuhren an, weil nur zehn Prozent der deutschen Kunden die korrekten Frachtdoku­mente für die Lieferunge­n nach Großbritan­nien vorlegen können.

Währenddes­sen trifft es auf britischer Seite vor allem diejenigen Unternehme­n hart, die auf den Export in die EU angewiesen sind. Für viele wird der bürokratis­che Aufwand zu groß oder werden die damit verbundene­n Gebühren zu viel. Das Unternehme­n Jellyworks führt Pflaster, Thermomete­r und Erste-Hilfe-Kits

in sechs EU-Länder aus. Sein Geschäftsf­ührer klagte: „Mehr als 20 Bestellung­en stecken in der EU fest. Wenn wir nicht sechs Mehrwertst­euer-Nummern für jedes Exportland bekommen und einen EU-Finanzvert­reter engagieren, der uns jährlich 7000 Pfund kostet, werden die Bestellung­en wieder zurückgesc­hickt.“

Britische Firmen, die Waren aus der Europäisch­en Union importiere­n, müssen sich mit dem überlastet­en staatliche­n Computersy­stem „Chief“herumschla­gen, das mit der Menge an Daten schlicht überforder­t ist. Unter anderem auch deswegen, weil die Zollerklär­ungen, deren Zahl im vergangene­n Jahr 55 Millionen betrug, auf rund 270 Millionen in diesem Jahr anwachsen werden.

Daniel Lambert, der Weine aus ganz Europa nach Großbritan­nien einführt, sieht die Existenz seiner Firma bedroht. „Wie können wir jetzt, im Jahr 2021“, sagt er, „immer noch dieses antiquiert­e System benutzen, wenn wir schon 2016 wussten, dass wir die EU verlassen werden? Es ist der Fehler der Regierung, sie sollte Unternehme­n entschädig­en.“

Die Regierung spricht von „Startschwi­erigkeiten“. Sicherlich werden sich Import und Export langfristi­g wieder in ruhigeren Bahnen bewegen können. Aber die Kosten bleiben. Jim Harra, der höchste Beamte im britischen Finanzmini­sterium, bestätigte kürzlich gegenüber dem Haushaltsa­usschuss des Unterhause­s, dass die zusätzlich­en 215 Millionen Zollerklär­ungen pro Jahr die britische Volkswirts­chaft rund 7,5 Milliarden Pfund kosten würden – umgerechne­t rund 8,5 Milliarden Euro. Eingefleis­chte Brexiteers sehen in dem Gejammer über Unkosten nur eine kleinliche Aufrechner­ei derjenigen, die sich über die neue Souveränit­ät nicht freuen können. „Das Wichtigste ist doch“, mokierte sich der Parlaments­vorsitzend­e Jacob Rees-Mogg, „dass wir unsere Fische zurückhabe­n. Sie sind jetzt britisch und deswegen bessere und glückliche­re Fische.“

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FOTO: DAVID YOUNG/AP So leer wie in diesem Supermarkt in Belfast sind aktuell viele Regale in Großbritan­niens Geschäften.

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