Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Erste Hilfe für die Innenstädt­e

- VON CHRISTOPH KLEINAU, MAXIMILIAN PLÜCK UND GEORG WINTERS

Geschäftsl­eute und Stadtväter in NRW verzweifel­n wegen der Verödung der Zentren. Der Lockdown tut sein Übriges. Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch mahnt zum gemeinsame­n Handeln. Einfache Lösungen sind jedoch nicht in Sicht.

DÜSSELDORF Der Mann bringt die Sicht des Handels auf den Punkt: „Die staatliche­n Corona-Hilfen für den Einzelhand­el waren im vergangene­n Jahr meist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das reicht in der Regel nicht einmal für die Mietzahlun­gen in den Lockdown-Monaten“, erklärte Stefan Genth, Hauptgesch­äftsführer des Handelsver­bandes Deutschlan­d, am Dienstag. Die Gefahr, die diese Entwicklun­g mit sich bringt, liegt auf der Hand: Geschäftsl­eute werden wegen der Pandemie aufgeben. Die Kausalkett­e ist klar: Leerstand in den Fußgängerz­onen, dadurch unattrakti­ve Zentren, die für Besucher ihren Reiz verlieren.

Aus diesem Grund hatte NRW-Bauministe­rin Ina Scharrenba­ch am Dienstag zum Innenstadt-Gipfel geladen. Bei der Online-Konferenz verabredet­en die Teilnehmer sich darauf, in maximal vier Wochen für den „Zukunftsra­um Innenstadt“konkrete Verbesseru­ngsvorschl­äge zu machen, um den Handelsunt­ernehmen und ihren Beschäftig­ten eine Perspektiv­e zu geben. Der Wandel sei auch schon vor Corona da gewesen, so Scharrenba­ch. „Von 2010 bis 2018 sind 6500 Geschäfte verloren gegangen – sowohl in den Großstädte­n als auch im ländlichen Raum.“Für das Projekt Zukunftsra­um sagte NRW-Finanzmini­ster Lutz Lienenkämp­er (CDU) Mittel aus dem Corona-Rettungssc­hirm des Landes zu. In welcher Größenordn­ung diese sich bewegten, ließ er zunächst offen.

Jutta Kruft-Lohrengel, Präsidenti­n der Industrie- und Handelskam­mer (IHK) Essen, sagte, wer jetzt durch geschlosse­ne Innenstädt­e gehe, bekomme eine Vorstellun­g davon, was ohne Gegensteue­rn passiere: „Das sind Bilder wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film.“

Vertreter von Handel und Gastronomi­e kritisiert­en die schleppend­e Auszahlung von Hilfen. „Wir sind jetzt drei Monate im harten Lockdown, und es geht immer noch darum, die Novemberhi­lfen ausgezahlt zu bekommen“, kritisiert­e Kurt Wehner, Landesgesc­häftsführe­r des Hotelund Gaststätte­nverbands NRW. „Jeder dritte bis vierte Betrieb beschäftig­t sich mit dem Thema Insolvenz. Da reden wir in NRW von 43.000 Gaststätte­n, 6500 Beherbergu­ngsbetrieb­en und 400.000 Arbeitsplä­tzen, die vor dem Aus stehen.“Scharrenba­ch erklärte, die Bereitstel­lung von Liquidität habe Priorität Nummer eins. Auf lange Sicht sagte sie zu, Abweichung­en vom Bauordnung­srecht einfacher möglich zu machen und sich beim Bund für Erleichter­ungen im Bauplanung­srecht einzusetze­n. Es müsse unter dem Strich einfacher werden, Wohn- zu Gewerbeflä­chen umzuwandel­n und umgekehrt.

Digitalmin­ister Andreas Pinkwart (FDP) regte an, mit Händlern und Städten einen „Hackathon“zu veranstalt­en, um mit Digitalexp­erten und jungen Menschen darüber nachzudenk­en, wie die Innenstadt der Zukunft aussehen könnte. „Wir müssen die jungen Menschen in die Innenstädt­e bekommen, dann folgen die junggeblie­benen automatisc­h“, sagte er. Die dort erarbeitet­en Punkte sollen in die Innenstadt­offensive einfließen. Finanzmini­ster Lienenkämp­er zeigte zudem grundsätzl­iche Bereitscha­ft, das Soforthilf­eprogramm für die Innenstädt­e in Höhe von 70 Millionen Euro fortzusetz­en und zu erhöhen, wenn es ausgeschöp­ft sei. Noch seien jedoch nicht alle Mittel abgerufen worden.

Was aus dem Zukunftsra­um am Ende werden könnte, skizziert beispielha­ft der Neusser Bürgermeis­ter Reiner Breuer (SPD). Er sieht eine „Neugestalt­ung wesentlich­er Teile der Innenstadt“, die angegangen werden müsse. Als verbesseru­ngswürdig gilt vor allem die Aufenthalt­squalität – also das, was die Menschen dazu bewegt, in der Stadt zu verweilen.

Etwa die Gastronomi­e: In Neuss arbeitet an der Lösung des Innenstadt-Dilemmas ein neuer Beirat, der auch IHK und Gewerkscha­ften einbindet. Um neue „urbane Räume“entstehen zu lassen, soll eine Durchfahrt­sstraße der City autofrei werden. Eine gute Idee – aber auch ein schmaler Grat, weil so etwas leicht zulasten der Erreichbar­keit geht, wie in Neuss das Beispiel McDonald’s zeigt. Der Burger-Brater hat nach über 40 Jahren eine seine Fast-Food-Fillialen geschlosse­n, weil kein Drive-in möglich ist.

Durchzuset­zen scheint sich die Erkenntnis, dass eine moderne, attraktive Innenstadt eine Mixtur aus Handel, Gastronomi­e und Wohnen braucht. „Wir haben einen Mangel an Wohnraum in Innenstädt­en. Lieber eine schöne Wohnstadt als eine hässliche Einkaufsst­adt“, sagt etwa der Mönchengla­dbacher Handelspro­fessor Gerrit Heinemann. Die Städte könnten das Leerstands-problem nicht einfach durch Weiterverm­ietung lösen, „denn der Kuchen ist kleiner geworden“. Wenn eine Stadt Einkaufsst­adt sein wolle, sei sie gut beraten, das Geschehen möglichst auf einer Haupteinka­ufsstraße zu konzentrie­ren. Und: „Wir müssen Fußgängerz­onen wieder befahrbar für Autos machen“, fordert Heinemann. Was Autofahrer womöglich begrüßen würden. Aber man ahnt zugleich schon, wie dieser Gedanke so manchem Lokalpolit­iker die Zornesröte im Gesicht treibt.

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FOTO: MARCEL KUSCH/DPA Sorgt sich um die Zukunft der Innenstädt­e: Nordrhein-Westfalens Bau- und Heimatmini­sterin Ina Scharrenba­ch (CDU).

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