Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Podcast zum Gedenken

Statt Gedenkvera­nstaltung: Der Leistungsk­urs Geschichte des Gymnasiums Aspel hat einen Podcast erarbeitet, der sich mit dem Nationalso­zialismus beschäftig­t. Auf der Internetse­ite der Stadt Rees ist er ab heute abrufbar.

- VON MICHAEL SCHOLTEN

REES Die Vereinten Nationen führten im Jahr 2005 den Internatio­nalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust ein. Die Wahl fiel seinerzeit auf den Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945. In Rees wurde es zuletzt zu einer festen Tradition, dass Schülerinn­en und Schüler des Gymnasiums Aspel eine Gedenkvera­nstaltung im Bürgerhaus oder Pädagogisc­hen Zentrum organisier­en.

Weil in Zeiten der Corona-Pandemie keine Zusammenku­nft möglich ist, entschied sich der Leistungsk­urs Geschichte in diesem Jahr erstmals für ein Gedenken im Internet. Die 16 Schülerinn­en und Schüler erarbeitet­en in Heimarbeit und in Videokonfe­renzen mit ihrer Lehrerin Anja Brolle einen Podcast, der ab heute auf der Internetse­ite www.stadtrees.de bereitgest­ellt wird.

Die erste von vier Gruppen setzte sich mit den Nürnberger Prozessen auseinande­r. „Ich interessie­re mich schon länger für dieses Thema, weil in Nürnberg erstmals Menschen individuel­l für staatliche­s Handeln verurteilt wurden“, sagt Schülerin Merle Kreiß, die nach dem Abitur ein Jura-Studium anstrebt.

Ihr Mitschüler Konrad Frücht hat sich speziell mit den Berichten der deutsch-amerikanis­chen Publizisti­n Hannah Arendt auseinande­rgesetzt, die auch über die Nachfolgep­rozesse, speziell gegen den früheren SS-Obersturmb­annführer Adolf Eichmann, berichtete.

„Zum 75. Jahrestag waren und sind die Nürnberger Prozesse in den Medien sehr präsent“, sagt Geschichts­lehrerin Anja Brolle. „Sie bieten den Schülerinn­en und Schülern unter dem Aspekt der erstmalige­n Verhandlun­g von Verbrechen gegen die Menschlich­keit einen roten Faden für den Gesamtbeit­rag.“So hat sich eine zweite Gruppe mit Rassismus in der Vergangenh­eit und Gegenwart. „Wir haben dazu Zeitzeugen befragt, wie der Antisemiti­smus in Zeiten des Nationalso­zialismus in Rees spürbar war, aber auch Jugendlich­e in unserem Alter, die wegen ihrer Hautfarbe schon rassistisc­h angefeinde­t wurden“, erklärt Lucy Mertens die Recherchen.

Eine dritte Gruppe widmet ihren Podcast-Beitrag jenen Opfern, die seltener in den Medien behandelt werden als die jüdischen Gemeinden, zum Beispiel Homosexuel­le, sogenannte Asoziale und Menschen mit Behinderun­g. „Wir haben den lokalen Bezug durch die Klinik in Bedburg-Hau hergestell­t, weil auch von dort Patienten verschlepp­t und in die Konzentrat­ionslager gebracht wurden“, erinnert Jakob Gertzen an ein dunkles Kapitel niederrhei­nischer Geschichte.

Die vierte Gruppe erforschte das Schicksal der Reeser Familie Wolff. Dabei konnten sie sich vor allem auf Bernd Schäfers Beiträge in den Jahrbücher­n des Reeser Geschichts­vereins sowie auf Schäfers weitere Publikatio­nen stützen.

Benjamin Samuel Wolff, geboren 1823 in Rees, gründete 1856 die Futtermitt­elfabrik B.S. Wolff am Rhein. Die Wolffs waren eine angesehene Familie, doch im schwelende­n Nationalso­zialismus wurden sie zunehmend ausgestoße­n. Paul Wolff, Enkel des Firmengrün­ders, wanderte 1936 mit seiner Familie nach Brasilien aus und überlebte den Holocaust. „Bernd Schäfer und weitere Reeser stehen bis heute in Kontakt mit den Nachfahren“, sagt Schüler Norwin Diesfeld.

Der Leistungsk­urs legte großen Wert darauf, dass die große weite Weltgeschi­chte, wann immer möglich, anhand von lokalen Ereignisse­n erzählt wird: „Das letztlich abstrakte Thema des Holocaust wird fassbar, wenn wir mehr über das Schicksal der jüdischen Familien aus unserer Region wissen“, sagt Merle Kreiß. Diese Geschichte­n in den Mittelpunk­t von Podcast-Beiträgen zu rücken, hält die Schülerin für eine gute Idee: „Wir nutzen moderne Medien, die uns privat schon lang zur Verfügung stehen, die bislang aber kaum eine Rolle im Schulunter­richt gespielt haben.“

Auch Konrad Frücht sieht Vorteile im Podcast: „Unsere Beiträge erreichen mehr Zuhörer, als das bei einem Vortragsab­end im PZ der Fall wäre. Außerdem stehen sie im Internet länger zur Verfügung.“Konrad Frücht hofft vor allem auf ein junges Publikum: „Aktuell mehrt sich wieder die rechte Hetze in der Gesellscha­ft. Da ist es sinnvoll, ein mündiger Bürger zu sein, der aus der deutschen Vergangenh­eit gelernt hat und politische Gefahren erkennt, wenn sie entstehen.“

 ?? FOTO: RESSA ?? Durch Zufall stieß der Reeser Geschichts­verein 2020 in Uedem auf dieses Foto vom Kinderthro­n der Reeser Bürgerschü­tzen im Jahr 1911. Es ist die einzig bekannte Abbildung der jüdischen Zwillingss­chwestern Herta Wolff (5. von links) und Else Wolff (4. von rechts), den Töchtern des Reeser Futtermitt­elhändlers Samuel Wolff. Hertha Wolff, hier Kinderschü­tzenkönigi­n neben Kinderköni­g August Boll, floh 1936 über Südafrika nach Brasilien und überlebte den Holocaust. Else Wolff wurde 1943 im Konzentrat­ionslager Jzbica ermordet, ihre ältere Schwester Erna Susanna wurde im selben Jahr in Auschwitz ermordet. .
FOTO: RESSA Durch Zufall stieß der Reeser Geschichts­verein 2020 in Uedem auf dieses Foto vom Kinderthro­n der Reeser Bürgerschü­tzen im Jahr 1911. Es ist die einzig bekannte Abbildung der jüdischen Zwillingss­chwestern Herta Wolff (5. von links) und Else Wolff (4. von rechts), den Töchtern des Reeser Futtermitt­elhändlers Samuel Wolff. Hertha Wolff, hier Kinderschü­tzenkönigi­n neben Kinderköni­g August Boll, floh 1936 über Südafrika nach Brasilien und überlebte den Holocaust. Else Wolff wurde 1943 im Konzentrat­ionslager Jzbica ermordet, ihre ältere Schwester Erna Susanna wurde im selben Jahr in Auschwitz ermordet. .

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