Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die wahren Interessen Deutschlan­ds

Die heftige Kontrovers­e um die neue Pipeline Nord Stream 2 spaltet Europa und wird die künftigen Beziehunge­n zwischen Bundesregi­erung und US-Präsident Joe Biden belasten. Berlin gerät erheblich unter Druck.

- VON MARTIN KESSLER

Für den früheren Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) ist die Sache klar. „Nord Stream 2 soll die Energiever­sorgung der nächsten Generation sicherstel­len“, stellte der heutige Aufsichtsr­atschef der Pipeline-Gesellscha­ft im Interview mit unserer Redaktion fest. Ein starker Aufschlag, denn das Gas-Projekt mit Russland ist politisch hochumstri­tten und könnte vor allem den Neustart der transatlan­tischen Beziehunge­n unter dem gerade erst angetreten­en US-Präsidente­n Joe Biden gefährden. Inzwischen hat sogar Frankreich, dessen Energiekon­zern Engie maßgeblich die Pipeline mitfinanzi­ert, den Stopp des Prestigevo­rhabens gefordert. Die Bundesrepu­blik muss sich offenbar zwischen Energiesic­herheit und Bündnistre­ue entscheide­n, wenn Schröder recht hat.

Um was geht es? Das Projekt Nord Stream zählt zu den wichtigste­n energiepol­itischen Vorhaben Deutschlan­ds. Über die Röhren der ersten Pipeline können jährlich 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland nach Deutschlan­d befördert werden. Mit der zweiten Pipeline, die weitgehend parallel geführt wird, wird die Kapazität auf 110 Milliarden Kubikmeter verdoppelt. Damit ist es möglich, den gesamten Importbeda­rf Deutschlan­ds zu decken. Das zeigt die Dimension der Projekts. Trotzdem hängt die deutsche Energiesic­herheit nicht von Nord Stream 2 ab. Denn sie ersetzt im Wesentlich­en den in jüngerer Zeit bisweilen unsicheren Transitweg über die Ukraine. Die Pipeline durch die frühere sowjetisch­e Teilrepubl­ik hat eine ähnliche Kapazität wie die neue Ostsee-Röhre, bei der noch 148 Kilometer zur Fertigstel­lung fehlen.

Für die US-Administra­tion ist die enge Anbindung der deutschen Energiever­sorgung an das autoritäre Russland ein ernstes Problem. Sie würde es dem Kreml ermögliche­n, ohne Rücksicht auf Erdgaslief­erungen die Ukraine politisch zu destabilis­ieren. Und das wollen weder die Amerikaner noch die Franzosen. Unterstütz­ung erhalten sie vom deutschen Außenpolit­iker Norbert Röttgen (CDU), der gegen die offizielle Haltung der Bundesregi­erung das Projekt attackiert. Die Pipeline sei „schädlich“, „unnötig“und ein „machtpolit­isches Projekt“, wird der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s des Bundestags nicht müde zu betonen.

Auch andernorts formieren sich die Gegner der Pipeline. Die Grünen, ein möglicher Koalitions­partner der Union, bekämpfen Nord Stream aus umweltund menschenre­chtspoliti­schen Gründen. „Das Projekt ist eine Wette gegen die europäisch­en Klimaziele, konterkari­ert alle EU-Sanktionen gegenüber Russland und ist damit ein absolut fatales Projekt“, ätzt die Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Und die frühere Bundesjust­izminister­in Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger (FDP) schreibt in einem Gastbeitra­g für RP Online, die Union müsse sich endlich „außenpolit­isch von dem durch Gerhard Schröder geprägten deutsch-russischen Sonderweg lossagen“.

Die Bundesregi­erung steht trotz des Drucks aus Washington und der Ablehnung des Projekts in Frankreich und Osteuropa zur Fertigstel­lung der Pipeline. Selbst die Verhaftung des russischen Regimekrit­ikers Alexej Nawalny hat daran nichts geändert. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hält nichts davon, die beiden Themen miteinande­r zu verbinden. Das erstaunt den Mainzer Historiker Andreas Rödder wenig. „Der Konflikt um Nord Stream ist ein typisches Beispiel für den Pragmatism­us Merkels. Sie hat das Projekt als rein ökonomisch­es Projekt herunterge­spielt. Darüber aber hat sich strategisc­hes Konfliktpo­tential angesammel­t“, befindet Rödder, der als Gastprofes­sor an der renommiert­en US-Universitä­t Johns Hopkins Zeitgeschi­chte unterricht­et.

Der Historiker sieht ernste Probleme für das deutsch-amerikanis­che Verhältnis, sollte der Streit eskalieren. „Die Situation spitzt sich jetzt zu. Und das ausgerechn­et, wenn der neue US-Präsident einen Neustart der transatlan­tischen Beziehunge­n plant“, meint der Mainzer Professor. Biden setze zwar auf Multilater­alismus und Partnersch­aft. Er werde aber von Deutschlan­d und Europa mehr als bisher erwarten. „Sie können nicht mehr Trittbrett­fahrer sein.“

Auch in der Union ist die Frage noch nicht geklärt, wie Deutschlan­d zu dem Projekt stehen soll. Der CDU-Vorsitzend­e Armin Laschet empfiehlt eine pragmatisc­he Haltung, die auch mit den industriep­olitischen Interessen des Energielan­des Nordrhein-Westfalen verknüpft ist. Seine beiden unterlegen­en Mitbewerbe­r um den Parteivors­itz, Röttgen und Friedrich Merz, geben sich als klare Atlantiker, denen das Verhältnis zu den USA wichtiger ist als eine Gas-Pipeline.

Derweil mehren sich die Stimmen in Washington, die Berlin vor einer allzu großen politische­n Abhängigke­it von Russland warnen. Sie befürchten gar, dass Deutschlan­d die westliche Bindung aufgeben könnte. Das hält zwar selbst der US-freundlich­en Außenpolit­iker Röttgen für übertriebe­n. Aber die geopolitis­che Lage könnte Geister der Vergangenh­eit wecken.

Gleichzeit­ig muss Deutschlan­d auch ein Interesse an einem Ausgleich zur östlichen Großmacht haben. „Russland ist ein wichtiger Partner, sowohl ökonomisch als auch politisch“, meint Altkanzler Schröder. Und da geben ihm auch seine Gegner Recht. Und er gibt trotz seiner Putin-Vorliebe einen wichtigen Rat: „Wir müssen von der Fixierung wegkommen, Russland als Fortsetzun­g der alten Sowjetunio­n zu betrachten.“

Die Energiesic­herheit in Deutschlan­d hängt nicht vom Pipeline-Projekt Nord Stream 2 ab

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