Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Sehen lernen mit David Hockney

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Die Arbeiten des Briten sind Reflexione­n über unser Verhältnis zur Natur und zu anderen Menschen. Sie machen Lust auf das Leben. Ein neuer Bildband fächert das Werk des zweitteuer­sten lebenden Künstlers auf.

Das ist jetzt, da ein Virus die Welt zu erobern versucht, besonders wichtig: dass man nicht vergisst, wie schön es draußen ist. Und dass es jemanden gibt, der noch einmal zeigt, wie herrlich Natur sein kann und wie toll Menschen sind und Freunde. Und dass man sich schon mal darauf freuen sollte, bald wieder zu schauen und miteinande­r zu sprechen und zusammen zu sein. Zum Glück gibt es diese Person, die die Lust auf emotionale­n Vollkontak­t auch im Lockdown wachhält. Sie heißt David Hockney.

Soeben ist ein Bildband erschienen, den jeder auf Krankensch­ein bekommen sollte, um damit das Warten auf die Impfung zu verkürzen. „David Hockney. A Chronology“heißt er und fächert auf 500 Seiten das Werk des britischen Künstlers auf, der auch mit 83 neugierig wirkt wie ein Kind. Zurzeit versucht er wieder etwas Neues: Im Musée de l’Orangerie in Paris wird er bei nächster Gelegenhei­t die Wände eines 60 Meter langen Korridors mit eigens für ihn gefertigte­n Leinwänden bespannen, die wie Tapisserie­n, Wandteppic­he also, gestaltet sind. Darauf zu sehen sind dann die Jahreszeit­en, und um ihren Verlauf zu entdecken und gewisserma­ßen Teil der Natur und der Zeit werden zu können, muss man daran entlang schreiten. Der Zuschauer vollendet das Kunstwerk in der Bewegung.

Hockney ist der zweitteuer­ste lebende Maler. Sein „Portrait Of An Artist (Pool With Two Figures)“, das vor 49 Jahren in einer New Yorker Galerie für 18.000 Dollar verkauft wurde, brachte 2018 bei einer Versteiger­ung 90,3 Millionen Dollar. Nur „Rabbit“von Jeff Koons erzielte einen höheren Betrag: 91,1 Millionen. Lange wurde Hockney für zu leicht befunden; seine Kunst galt als visuelles Äquivalent von Easy-Listening-Musik. Vielleicht liegt es an den berühmten Bildern von Swimmingpo­ols, die er in seiner Zeit in den 1960ern und 70ern in L.A. malte. Auf den ersten Blick wirken sie dekorativ, pop-artig. Aber man sollte zweimal hinschauen. Auf die Blätter, Wassertrop­fen und Strukturen. „Du kannst auf die Oberfläche des Wassers blicken, oder du kannst hindurchse­hen“, sagt Hockney. Und man wähnt ihn dabei vor sich: weißer Pilzkopf, große runde Brille, bunte Socken, lächelnd.

Das ist denn auch das Aufregende an diesem Werk: Es ermuntert, hinzusehen, genauer: zu schauen und zu erkennen. Es feiert die Gegenwart. Es feiert überhaupt das Wachsen und Werden. Und die Beziehunge­n zwischen den Menschen. Wo immer sich Hockney niederließ, in Kalifornie­n, Yorkshire oder der Normandie, überall zeichnete er die Jahreszeit­en. Er arbeitete mit der jeweils neuen Technik, mit Fotokopier­er, Faxgerät, mit Polaroid und 3D. Er steht nicht mit einer Staffelei draußen, sondern mit dem Tablet, für das er sich ein spezielles Zeichenpro­gramm entwerfen ließ.

Berührend sind die Porträts von seinen Eltern und von Freunden, die er mehrfach zeichnete. Von Celia Birtwell, seiner Muse, die auf seinen Bildern zwischen 1971 und 2019 vor unseren Augen altert. Jede dieser Arbeiten zeigt nicht nur einen Menschen, sondern auch die Beziehung, in der sie zum Maler steht. Auf den zweiten Blick erkennt man das unsichtbar­e Geflecht, die Chemie zwischen den Personen, die Zuneigung.

Die Malerei ist der Hafen, in dem Hockney nachdenkt und reflektier­t und von dem aus er immer wieder aufbricht, um mit dem Neuen zu spielen. Matisse und Picasso sind seine Helden, wenn es um Landschaft­smalerei geht. Degas, Manet und van Eyck sind seine Hausheilig­en des Studioport­räts. Bei ihnen geht er aufs Neue in die Lehre und versucht, ihr Wissen für die aktuellen Gegebenhei­ten fruchtbar zu machen, für die Art, wie wir heute sehen. Dabei erkennt er keine formalen Begrenzung­en an. Jeder Stil, jedes Material ist spannend. Seine Fotos arrangiert er zu Collagen aus mitunter Hunderten Einzelbild­ern. Seine Arbeit „Woldgate Woods. Winter 2010“besteht aus neun Videos eines verschneit­en Weges, die auf neun Monitoren zu einer Ansicht arrangiert werden.

Hockney sprengt buchstäbli­ch den Rahmen. Neu denken, Überkommen­es überwinden. So war er schon am Royal College of Art, wo er es ablehnte, einen Aufsatz für seine Abschlussp­rüfung zu schreiben, weil er sich rein über die Kunst ausdrücken wollte. Seinetwege­n änderte man die Prüfungsor­dnung. Und so war er zu Beginn seiner Karriere, als er schwule Sujets in die Kunstgesch­ichte einbrachte, obwohl Homosexual­ität in England noch strafbar war.

David Hockney: Revolution­är und Pionier. Einer, der aufbricht. Und dabei so nett ist, uns mitzunehme­n auf seine Reise ins Unerhörte. Ist schön da.

 ?? FOTO: DAVID HOCKNEY/ RICHARD SCHMIDT ?? Vielfach hat David Hockney in seinen Werken wie „The Arrival of Spring in Woldgate“den Verlauf der Jahreszeit­en nachverfol­gt.
FOTO: DAVID HOCKNEY/ RICHARD SCHMIDT Vielfach hat David Hockney in seinen Werken wie „The Arrival of Spring in Woldgate“den Verlauf der Jahreszeit­en nachverfol­gt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany