Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Der Staat guckt weg“

Der Freiburger Virologiep­rofessor über seine Einschätzu­ng zur Dauer der Pandemie, heikle Schnelltes­ts, Daten des Robert-Koch-Instituts und die Gefährlich­keit der Mutationen.

- WOLFRAM GOERTZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Professor Hengel, viele Menschen fragen sich derzeit, wie lange die Pandemie noch dauern wird. Was antworten Sie?

HENGEL Ich glaube, dass die aktuelle Pandemie insgesamt drei Jahre dauern wird, bis wir dieses Naturereig­nis mit allen seinen Nachwirkun­gen überwunden haben werden.

Also bis Ende 2022? HENGEL Vermutlich.

Dabei hätte man aus der Schweinegr­ippe viel lernen können, oder? HENGEL Haben wir ja, doch leider auch Ungünstige­s. Wir haben unsere sogenannte Preparedne­ss für Pandemien verbessert. Am Universitä­tsklinikum in Düsseldorf, an dem ich damals arbeitete, ist ein exzellente­r Pandemiepl­an entstanden. Trotzdem haben viele unter dem Eindruck der relativ milden Schweinegr­ippe geglaubt, dass Pandemien nicht mehr so schlimm sein würden wie etwa 1918/1919 mit der Spanischen Grippe.

Das war wohl ein Irrtum.

HENGEL Leider ja, und wir müssen aus der jetzigen Pandemie die richtigen Schlussfol­gerungen ziehen für die nächste Pandemie, die ja unweigerli­ch kommen wird.

Womit beginnen wir?

HENGEL Mit der Aufarbeitu­ng der aktuellen Defizite. Die sind ja unverkennb­ar, etwa beim öffentlich­en Gesundheit­sdienst oder der Digitalisi­erung unserer Gesellscha­ft – Stichwort Corona-App – und unserer Schulen. Wir haben auch die Möglichkei­ten der Luftsteril­isation bisher nicht wirklich verfolgt. Als Stichwort nenne ich: kaltes Plasma.

Obwohl es in diesem Bereich viele gute Techniken gibt.

HENGEL Viele sind sogar in Deutschlan­d entwickelt worden, etwa an deutschen Universitä­tsinstitut­en für Plasmafors­chung. So könnte die Übertragun­g von Erregern durch die Luft zukünftig effektiv verhindert werden.

Also müssen wir harte

Maßnahmen ertragen.

Wie hart sollten sie sein?

HENGEL Ich habe Sympathie für die Zero-Covid-Strategie einiger Wissenscha­ftler, die die Infektions­zahlen so drastisch drücken wollen, dass man jeder Infektion nachgehen kann. In einigen Ländern hat das funktionie­rt, doch ob das in Deutschlan­d ebenso funktionie­rt, weiß ich nicht. Denn wir wissen ja, dass wir viele symptomfre­ie Menschen hier haben, die aber trotzdem infiziert sind und das Virus weitergebe­n können.

Diese symptomfre­ien, aber infizierte­n Menschen sind ja möglicherw­eise auch verantwort­lich für das Mutationsg­eschehen weltweit, oder nicht?

HENGEL Vermutlich. In Brasilien oder Südafrika, also Ländern mit fast ungebremst­er Ausbreitun­g des Virus, ist das passiert, dass viele Menschen nur milde oder gar keine Symptome hatten, bei denen es dann auch nur schwache Antikörper-Antworten gab – und dann konnte sich das Virus durch Immunselek­tion rasant ausbreiten und verändern, im Ergebnis also bessere virale Fitness gewinnen.

Kennt man das von anderen Coronavire­n?

HENGEL Jawohl, und zwar sehr genau, nur haben wir diese Entwicklun­g jetzt in einer pandemisch­en Situation. Jetzt erleben wir es, dass das Virus Zweitinfek­tionen auslösen kann. Das ist der klassische Lifestyle von Coronavire­n.

Deshalb ist es offenbar gar nicht so überrasche­nd, dass es Menschen mit einer schwachen Erstinfekt­ion gibt, die dann eine Zweitinfek­tion erleiden, die sie umso stärker trifft. HENGEL Das ist mit unseren Erkenntnis­sen, die wir über Coronavire­n haben, sogar sehr gut vereinbar.

Wie sieht es mit der Immunität nach überstande­ner Infektion aus? Hat jemand mit einem schweren Verlauf möglicherw­eise einen höheren Antikörper-Spiegel als jemand mit einer leichten Infektion, die er gar nicht bemerkt hat? HENGEL So ist es, schwere Infektione­n führen zu deutlich stärkeren Immunantwo­rten, Infektione­n ohne große Symptome können sogar ohne messbare Antikörper­bildung ablaufen.

Und je höher der Antikörper-Spiegel, desto höher auch die Immunität für eine gewisse Zeit. Werden denn Genesene eines schweren Covid-19-Verlaufs derzeit geimpft? HENGEL Laut den Empfehlung­en der Ständigen Impfkommis­sion nein.

Trotzdem ist die Impfung noch stärker als die Immunität nach schwerem Covid-19-Verlauf?

HENGEL Ja, die Impfung erzielt deutlich höhere Antikörper-Konzentrat­ionen. Und wir hoffen, dass diese Konzentrat­ionen durch die Impfung auch nachhaltig­er und stabiler sind. Aber wir haben ja noch einen vergleichs­weise kurzen Beobachtun­gszeitraum.

Die Mutationen, die wir aus Großbritan­nien, Südafrika und Brasilien kennen, tragen ihre neuen Merkmale vor allem im Bereich des Spike-Proteins, hört man. Was bedeutet das für die Impfung? HENGEL Das mit dem Spike-Protein stimmt, aber es gibt auch andere Veränderun­gen. In jedem Fall muss man sagen, dass die südafrikan­ischen und brasiliani­schen Mutationen wirklich problemati­sch sind und höchste Aufmerksam­keit verlangen. Wir haben längst noch kein vollständi­ges Wissen darüber, wie sie sich ausbreiten. Wir werden sehen, ob unsere jetzige Impfung diese Varianten noch ausreichen­d kontrollie­ren kann. Mittelfris­tig brauchen wir eine Aktualisie­rung des mRNA-Impfstoffe­s, wahrschein­lich einen Varianten-Cocktail.

Jedenfalls gehen die Infektions­zahlen herunter. Trotzdem ist unklar, ob man ihnen trauen darf – weil viele Leute ihre eigene Infektions­lage durch einen Antigen-Schnelltes­t abklären, dessen Ergebnis aber in keiner Statistik auftaucht. HENGEL Das ist tatsächlic­h ein sehr wichtiges Thema. Es ist ein Versäumnis aller gesundheit­spolitisch verantwort­lichen Akteure, dass die Meldepflic­ht, die gesetzlich besteht, nicht umgesetzt wird. Das ist wirklich ein Skandal in dieser Pandemie. Wenn die Exekutive ihr eigenes Handeln und ihre Verantwort­ung ernst nehmen würde, dann müssten die Behörden des Gesundheit­sschutzes von Land und Bund diese Antigen-Schnelltes­t-Ergebnisme­ldung auch einfordern.

Damit dann automatisc­h und unumgängli­ch die PCR-Bestätigun­g veranlasst wird, um der Dunkelziff­er-Entwicklun­g vorzubeuge­n? HENGEL Genau. Das ist eine selbstvers­chuldete Datenlücke, die wir uns eingebrock­t haben, weil wir bei den Antigen-Schnelltes­ts so lax vorgehen. Gesundheit­sminister Jens Spahn will die Tests jetzt sogar für den Hausgebrau­ch freigeben. Damit wird die PCR-basierte Meldestati­stik immer brüchiger. Auch dass es kein behördlich­es Zulassungs­verfahren mehr gibt, dass die Hersteller ihre Tests ohne Kontrolle selbst zertifizie­ren, das sind alles defizitäre Zustände.

Das führt ja dazu, dass die Bevölkerun­g zu ihrem eigenen Robert-Koch-Institut wird. Jeder entscheide­t selbst, ob er bei einem positiven Antigen-Schnelltes­t die PCR überhaupt machen lässt. HENGEL Ja, der Staat guckt weg. Das darf in einer Pandemie wirklich nicht passieren. Die Schnelltes­ts werden auf den Markt geworfen wie ein Wirtschaft­sprodukt, dabei sind sie ein Medizinpro­dukt. Damit wir uns nicht falsch verstehen: In Altenheime­n können Schnelltes­ts segensreic­h sein, wenn sie richtig eingesetzt werden und ihre Aussagekra­ft nicht überschätz­t wird. Aber auch dort kommt es zu Fehlinterp­retationen von Ergebnisse­n, wenn jemand nicht wirklich für die Auswertung eines solchen Tests geschult ist. Das hat zu oft katastroph­ale Folgen.

Liegt es in der Natur einer Pandemie, dass sie alle

Entscheide­r überforder­t?

HENGEL Möglicherw­eise. Durch eine Pandemie kann man nicht fehlerfrei durchkomme­n. Deshalb haben wir einander derzeit viel zu verzeihen. Aber für die nächste Pandemie müssen wir besser vorbereite­t sein. Die Globalisie­rung, die Industrial­isierung der Landwirtsc­haft und die Zerstörung ökologisch­er Nischen fördert diese in der Natur angelegte Möglichkei­t der Katastroph­e.

Was ist jetzt vordringli­ch?

HENGEL Die molekulare Überwachun­g muss viel besser werden, damit wir jederzeit wissen, um welchen Erreger es sich handelt. Wir sind in Deutschlan­d bisher immer nur kleinteili­g, kurzatmig und projektbez­ogen vorgegange­n, und wir haben ein Bermuda-Dreieck von Zuständigk­eiten zwischen den Ressorts von Bund, Ländern, und Kommunen. Da muss eine nachhaltig­e Struktur geschaffen werden.

 ?? FOTO: DPA ?? Eine Schülerin beim Corona-Schnelltes­t durch das Deutsche Rote Kreuz (DRK).
FOTO: DPA Eine Schülerin beim Corona-Schnelltes­t durch das Deutsche Rote Kreuz (DRK).

Newspapers in German

Newspapers from Germany