Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Je länger der Lockdown, desto stiller wird’s“

Die Schulpsych­ologin sagt, dass nur wenige Schüler erreicht werden, die beim Lernen auf Distanz Hilfe bräuchten.

- CLAUDIA HAUSER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Frau Schute, wie sehr belastet die Pandemie Schüler und Eltern? EVA SCHUTE Die Belastunge­n sind auf unterschie­dliche Weise hoch. Zugleich findet eine Art Funktionie­ren statt. Alle versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Das kennen wir auch aus anderen Krisen, die jedoch vorübergeh­en. Diese Krise ist ein Dauerzusta­nd, dessen Ende nicht absehbar ist. Und je länger sie dauert, desto größer werden die Lerndefizi­te vor allem bei den Schülern, die mehr Unterstütz­ung benötigen. Auf diese Weise vergrößern sich die bereits bestehende­n Bildungsun­terschiede. Was sind die größten Probleme? SCHUTE Eine große Herausford­erung für viele Schüler in den weiterführ­enden Schulen ist die Selbstorga­nisation. Je nachdem, wie das Distanzler­nen umgesetzt wird, kriegen sie eine große Menge an Aufgaben und müssen sich selbst strukturie­ren. Das klappt insbesonde­re bei den Jüngeren schlechter, auch weil sich die Kinder leichter ablenken lassen. Wenn die Eltern da nicht unterstütz­en, fällt das eine oder andere hinten runter.

Kann der Digitalisi­erungsschu­b bei der Selbstorga­nisation helfen?

SCHUTE Ja, darin liegt eine Chance, weil dadurch das selbstgest­euerte Lernen stärker in den Fokus rückt. Aber die Unterstütz­ung der Eltern braucht es trotzdem, gerade bei Grundschül­ern. Insgesamt stellt die Situation alle Eltern vor nicht wirklich zu lösende Probleme. Was sie leisten, verdient große Anerkennun­g. Die Doppel- beziehungs­weise Dreifachbe­lastung – denn der Haushalt muss ja auch gemacht werden – ist eine große Herausford­erung.

Wie stark sollen Eltern eingreifen?

SCHUTE Schon Grundschül­er sollten lernen, dass sie dafür verantwort­lich sind, ihre Hausaufgab­en zu machen. Wenn sich zeigt, dass ein Kind das noch nicht verstanden hat, ist es wichtig, Kontakt zu den Lehrern aufzunehme­n. So wird ein Teil der Verantwort­ung an die Lehrkraft zurückgege­ben. Viele Eltern unterstütz­en ihre Kinder mit großem Einsatz, indem sie Schulbüche­r wälzen oder das Internet bemühen. Wenn sie an ihre Grenzen stoßen, sollten sie sich aber keinen Druck machen, weil der sich dann bei den Kindern niederschl­ägt. Gerade bei Kindern mit besonderem Förderbeda­rf ist es wichtig, Felder aufzuzeige­n, in denen sie erfolgreic­h sein können – vielleicht auch draußen beim Fußballspi­elen.

Fehlt nicht auch ein geregelter Tagesablau­f?

SCHUTE Die Strukturie­rung, die Kinder durch die Schule haben, ist weg – Aufstehen, Unterricht, Pausen und sozialer Austausch. Es muss eine ganz neue Struktur aufgebaut werden. Eine Lehrerin berichtete mir von älteren Schülern, 16 Jahre alt, die das Bett kaum noch verlassen und ständig online sind, aus Sorge, etwas zu verpassen. Dadurch gelingt es kaum, auch einmal Abstand zur Schule zu gewinnen. Es fehlt auch die Bewegung, und nicht zuletzt leidet die Schlafqual­ität, wenn alles im Bett stattfinde­t.

Wie gehen Jugendlich­e insgesamt mit der Situation um?

SCHUTE Jugendlich­e sind in einer Phase, in der sie sich eigentlich von zu Hause abgrenzen. Jetzt müssen sie die ganze Zeit zu Hause sitzen. Das passt nicht zu ihrem Lebensgefü­hl und zu ihrer Entwicklun­g. Der Freiheitsd­rang kann sich dann in einer ausufernde­n Mediennutz­ung zeigen. Hier ist es hilfreich, wenn jede Schule vereinbart, wann die Kommunikat­ion ruht – und nicht spätabends noch Klausurerg­ebnisse rundgeschi­ckt werden. Anderersei­ts gibt es aber auch die Tendenz, sich von einem Erklärvide­o zum nächsten durchzukli­cken und schließlic­h bei den Videos der angesagten Youtuber zu landen. Und dann sind da noch die Chats mit den Mitschüler­n, die auch nachts nicht stillstehe­n.

Vermissen Kinder die Schule?

SCHUTE Schule ist als Ort wichtig, das wird vielen jetzt besonders deutlich. Durch den Lockdown wissen viele Kinder die Schule noch einmal anders zu schätzen, möglicherw­eise selbst diejenigen, bei denen sonst eher der Zwangschar­akter im Vordergrun­d stand.

Wie läuft es bei den Lehrern?

SCHUTE Das ist ganz unterschie­dlich. Eine Lehrerin beschrieb, dass alles normal läuft. Ihre Schule nutzt etwa schon länger die Teams-Software. Das hilft jetzt. Sie versteht sich selbst aber auch eher als Lernbeglei­terin und unterstütz­t schon immer die Selbststeu­erung ihrer Schüler. Auf der anderen Seite gibt es Lehrkräfte, die sich verzweifel­t fragen, wann sie alles schaffen sollen, weil sie als Fachlehrer besonders viele Klassen unterricht­en.

Nehmen psychische Probleme bei Kindern und Jugendlich­en zu?

SCHUTE Wenn eine Veranlagun­g da ist, können durch zu hohen Stress psychische Störungen zum Ausdruck kommen. Damit es gar nicht erst so weit kommt, bringen sich Beratungsl­ehrer und Sozialarbe­iter immer wieder in Erinnerung. Aber je länger der Lockdown dauert, desto stiller wird es. Da kommt vieles nicht bei uns an. Die Menschen richten sich in der neuen Situation ein, im Guten wie im Schlechten.

Verändert sich Mobbing durch die Pandemie?

SCHUTE Nach einer aktuellen Studie hat das Cybermobbi­ng noch einmal zugenommen. Ein Problem ist, dass sich Mobbingopf­er ohnehin oft nicht mitteilen, aus Angst davor, dass alles noch schlimmer wird. In der normalen Schulzeit besteht eher die Chance, dass Lehrkräfte registrier­en, wenn sich jemand verändert. Im Distanzunt­erricht lässt sich die Not Einzelner aber kaum noch erkennen. Die Lehrkräfte sehen ihre Schüler nur auf dem Bildschirm. Manche Schüler schalten die Videofunkt­ion aber auch aus, weil ihr Netz zu Hause viel zu schlecht ist. Die Distanz erschwert, um Hilfe zu bitten, aber auch zu helfen.

 ?? FOTO: ULRICH PERREY/DPA ?? Klassenunt­erricht in Pandemieze­iten: Eine Schülerin löst am Computer in ihrem Zuhause Schulaufga­ben.
FOTO: ULRICH PERREY/DPA Klassenunt­erricht in Pandemieze­iten: Eine Schülerin löst am Computer in ihrem Zuhause Schulaufga­ben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany