Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein Fall für Fußball-Romantiker
Der Viertligist Essen steht im Pokal-Viertelfinale. Wieder einmal träumt der Klub von einer großen Zukunft und begeistert die Fans. Seine Gegenwart lebt von Nostalgie.
Marcel Platzek ist 30 Jahre, und er ist endlich berühmt. Er hat sein Fußballleben bislang in der dritten Reihe verbracht, aber seit dieser Woche ist er ein Star im Internet. Wacklige Handy-Bilder zeigen ihn, wie er auf einem Tisch in der Kabine hockt, eine Flasche Wasser in der Hand, zwei Kisten Stauderpils in Reichweite. An der Wand hängt ein rotes Banner mit der Aufschrift „Rot-Weiss Essen“. Und Platzek brüllt fragend in die Runde: „Wer spielt den Gegner an die Wand?“Vielstimmige Antwort: „Nur der RWE!“Dann wird gehüpft und gebrüllt. Ein Bild für Romantiker, es könnte auch aus der Kabine eines Kreisligisten stammen.
Der Viertligist RWE feiert eine echte Sternstunde. Er steht im Viertelfinale des DFB-Pokals, weil er im Achtelfinale den Europa-League-Teilnehmer Bayer Leverkusen nach Verlängerung mit 2:1 bezwungen hat. Hier passt das Wort von der Sensation, das so unheimlich gern verwendet wird, ausnahmsweise mal richtig. Platzek und seine Kollegen verdienen zwar auch Geld mit dem Fußball, selbst wenn sie offiziell in einer Amateurliga an den Start gehen, von den Millionen, wie sie Bayers Stars einstreichen, können sie jedoch nur träumen. Aber sie haben mit dem notwendigen Glück und der Kampfkraft, für die Fußballmannschaften
im Revier seit jeher bewundert werden, mindestens halb Deutschland zu RWE-Fans gemacht. In der Stadt brannten ein paar ganz heiße Anhänger ein kleines Feuerwerk ab, andere fuhren im Autokorso hupend durch die Straßen.
Es passt wunderbar in die typische Essener Mischung aus Leidenschaft und achselzuckender Fügung in ein zumindest immer wieder mal blödes Schicksal, dass ausgerechnet an diesem Feiertag kein Zuschauer ins Stadion durfte. Bei RWE (Ruhrgebietsdeutsch: beim RWE) sind sie Kummer gewöhnt. Die großen Erfolge gab es in den 1950er Jahren mit Meisterschaft und Sieg im DFB-Pokal, mit Helmut Rahn, Penny Islacker und Fritz Herkenrath. In den 1960ern und 1970ern wurde der Bundesliga-Fahrstuhl zwischen erster und zweiter Liga angeworfen. Immer wieder gab es finanzielle Probleme, spätere Abstiege bis in die fünfte Liga, zwei Insolvenzen. Aber die Liebe der Fans „zum RWE“ist nie erkaltet. Selbst zu Viertligaspielen kommen zehntausend Zuschauer, wenn sie denn dürfen.
Hier ist der Fußball noch ein bisschen bei sich, ohne die lärmende Kulisse des Hochglanzprodukts ein paar Ligen darüber. Und er bedient nebenbei die Klischees von Bratwurst und Bier, klassenloser Gesellschaft der Fans, Vereinstreue und Bodenständigkeit. Auch schön. Das ändert nichts an den Träumen der Anhänger von einer Rückkehr in die oberen Etagen. Wie wahrscheinlich allerdings eine Rückkehr nach ganz oben ist, zeigt die Geschichte des eigenen Klubs, der 1977 zum letzten Mal in der Bundesliga spielte. RWE-Fans wissen eigentlich, dass es ein aussichtsloser Traum ist. Und deshalb haben sie sich in dem Gefühl einer Gesellschaft mit nur sehr beschränkter Hoffnung ganz gemütlich eingerichtet – so lange es Abende gibt wie den im DFB-Pokal-Achtelfinale.