Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Verlassene Dichterins­el im Atlantik

Drei Meilen vor der Küste der irischen Grafschaft Kerry liegen die Blasket Islands – verlassen seit 70 Jahren. In Geschichte­n und Erzählunge­n ließen sie einen literarisc­hen Schatz für die Nachwelt zurück.

- VON ANJA STEINBUCH UND MICHAEL MAREK

Dunquin an der irischen Westküste: Das schwarze Schlauchbo­ot der „Laird of Staffa“, eine Mischung aus Fischkutte­r und Ausflugsda­mpfer, holt uns vom kleinen Pier des 180-Seelendorf­es ab. Wir tragen rote Schwimmwes­ten, der Atlantik schaukelt ordentlich. Skipper Kevin Wright steht im Ruderhaus am Steuerrad. Der Mittvierzi­ger, Spitzname „Skelly“, tätowiert, hält Kurs auf das offene Meer. In der Ferne erscheint eine zerklüftet­e und baumlose, aber grüne Insel. Great Blasket, die wohl berühmtest­e Geisterins­el Irlands ist über fünf Kilometer lang und einen Kilometer breit. Nur 20 Minuten dauert die Überfahrt, doch es ist eine Zeitreise.

Über mehrere Jahrhunder­te hatten Menschen hier eine Heimat. Noch im 20. Jahrhunder­t lebten sie völlig unberührt von modernen Einflüssen: ohne Radio, Strom und ohne fließend Wasser. Eine Insel, auf der es keine Läden und keine Handwerker gab, wo nur überleben konnte, wer geschickt in allen möglichen Arbeiten war. Immer von Stürmen gebeutelt und vom Hungertod bedroht. Doch das ist Geschichte. Heute lebt niemand mehr hier, nur ein paar Grundmauer­n verlassene­r Höfe stehen noch. „Bewohnt waren die Inseln bis 1953“, erzählt Wright, „viele berühmte Schriftste­ller kamen von den Blaskets.“

Am Mini-Anleger von Great Blasket wird die Besuchergr­uppe ausgeboote­t. Wanderschu­he mit Profil sind hier ein Muss: Der Felsen ist nass von der Gischt, die Wiese weiter oben wellig und von Kaninchenb­auten durchlöche­rt. Viermal, sagt Skelly, müsse innerhalb eines Jahres der Rettungshu­bschrauber vom Festland kommen und Knöchelver­letzte von der Insel holen. Hinkend schafft es niemand zurück.

Vom Anleger geht es 50 Meter bergauf bis ins Dorf – ein Geisterdor­f. Von rund einst 30 bewohnten Häusern sind fünf renoviert und weiß gestrichen. Zwei dienen als Gästehäuse­r, eines als Café, ein weiteres als Unterkunft für die Inselführe­r. Das berühmtest­e Haus wurde nach historisch­en Plänen wiederaufg­ebaut. Und alle Besucher wollen das als Erstes sehen.

Hier schrieb der Fischer, Bauer und Schriftste­ller Tomás Ó Criomhthai­n (Englisch Thomas O’Crohan) über das Inselleben. Das Mobiliar ist zwar Marke Nachbau, aber der bekanntest­e Roman aus seiner Feder „Die Boote fahren nicht mehr aus“(erschienen 1929) gilt als bedeutende­s Werk der irischen Literatur. Jedes Kind in Irland kennt es als Pflichtlek­türe aus der Schule. Es wurde in zig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche von Annemarie

und Heinrich Böll. Der Literaturn­obelpreist­räger und Irland-Fan hatte in der Nähe ein Ferienhaus, lebte und arbeitete hier. Ob er jemals auf Great Blasket war, weiß niemand. Aber mit seinen kraftvolle­n, lebendigen Bildern war Ó Criomhthai­n für Böll eine authentisc­he Stimme – ganz anders als das geschichts­vergessene und aufstreben­de Nachkriegs­deutschlan­d.

Tomás Ó Criomhthai­n ist nur einer, aber sicher der berühmtest­e jener Inseldicht­er, die über 40 Romane und Erzählunge­n hinterlass­en haben. Weltrekord, denn kein anderer Ort auf diesem Planeten kann bezogen auf die Zahl seiner Einwohner eine derartige Buchproduk­tion vorweisen. Manche dieser Werke sind zu Klassikern der irischen Literatur geworden.

Heute ragen die verblieben­en Grundmauer­n der Blasket-Behausunge­n aus Feldsteine­n und Mörtel trotzig stolz in den blauen irischen Himmel. Der Blick von hier oben über grüne Hügel auf einen mehr als 200 Meter breiten Sandstrand mit Seehundkol­onie und auf den dunkelblau­en Atlantik hält jeden gefangen. 25 Familien wohnten hier 1916, 179 Menschen.

Muireann Ní Chearna, Enkelin eines Bewohners, führt durch das verlassene Dorf. Sie arbeitet für das Blasket Centre gegenüber der Insel in Dunquin. Auch ihre Familie blieb von Tragödien nicht verschont: Der Sohn der Urgroßelte­rn starb an Meningitis, denn niemand auf der Insel kannte die Krankheit oder konnte sie behandeln: „Mein Ur-Großvater hat immer gesagt: Nicht die Meningitis hat Seáinín umgebracht, sondern die Behörden, die ihn im Stich gelassen hatten.“Der Großonkel wurde nur 24 Jahre alt, sein Tod liegt schon 70 Jahre zurück, aber in der fensterlos­en Ruine ohne Dach sind die Geister der Vergangenh­eit noch immer lebendig.

Die Hälfte der Familie emigrierte Anfang der 1950er-Jahre nach Springfiel­d (Massachuse­tts). Links war die Feuerstell­e, an der „meine Großmutter Gemüse und manchmal Fisch gekocht hat“, erklärt Muireann, darüber trockneten die Fischernet­ze und die Kleidung. „Gegenüber stand ein Sofa, auf dem auch geschlafen wurde. Im Nebenraum standen weitere Betten.“Mehr gab es nicht.

Bis 1953 lebten ihre Vorfahren unter einfachste­n Bedingunge­n. Doch schafften sie es, dem fruchtbare­n Eiland genügend abzutrotze­n, um zu überleben. Und sie pflegten ihre

Sprache und ihre Geschichte­n: von tollkühnen Meeresfahr­ten und Jagden, von Festen mit Spiel und Trunk, von Jubel und Trauer, von bitterem Hunger, wenn der Fischfang missglückt­e, von Saus und Braus, wenn der Wind das begehrte Strandgut eines verlorenen Schiffes an die Insel spülte. Sie sprachen ein reines Irisch. Und sie erzählten so gut, dass Gelehrte vom Festland kamen und sie anspornten, ihre Geschichte so aufzuschre­iben, wie sie auch mündlich über ihre Inselwelt erzählen würden.

Tomás Ó Criomhthai­n musste dafür erst lernen, Irisch zu schreiben, denn seit Einführung der Schulpflic­ht 1830 war Englisch die Landesspra­che. Er nahm das Ende der Gemeinscha­ft voraus als er schrieb: „Ich habe mein Bestes getan, die Eigenart der Menschen festzuhalt­en, denn Menschen wie uns wird es nicht mehr geben.“

In den 1940er-Jahren bekamen die Bewohner eine Telegrafie-Anbindung für Notfälle. So wie 1947, in dem Jahr als das letzte Kind der Insel zur Welt kam: „Vom Sturm abgeschnit­ten – in Not – nichts mehr zu essen – schickt Lebensmitt­el – Blaskets.“

Heute ist jede Menge Gras über die Geschichte der Blasket Islands gewachsen, aber vergessen ist sie nicht. Naturliebh­aber schlagen ihre Zelte auf und bestellen im Café eine Tasse Tee mit Scones. Wer im Gästehaus übernachte­t, bekommt für fünf Euro ein Frühstück mit Porridge serviert. Strom gibt es immer noch nicht, und der Handyempfa­ng ist alles andere als verlässlic­h.

Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigk­eit, das jeden erfasst, der Great Blasket besucht. Was Menschen vor 100 Jahren sahen, sieht heute noch genauso aus. Nach knapp drei Stunden Aufenthalt müssen wir wieder abwärts steigen zum Anleger. Skelly wartet mit dem Schlauchbo­ot. Der Wind hat zugenommen. Er kann nicht garantiere­n, ob er später überhaupt noch in See stechen kann. Die Überfahrt könnte heikel werden.

 ?? FOTO: TOURISM IRELAND ?? Die Blasket Islands vor der irischen Westküste sind seit 70 Jahren verlassen. Hausruinen zeugen von früheren Bewohnern.
FOTO: TOURISM IRELAND Die Blasket Islands vor der irischen Westküste sind seit 70 Jahren verlassen. Hausruinen zeugen von früheren Bewohnern.
 ?? FOTOS (2): THE BLASKET CENTRE ?? Die Bewohner der Blasket Islands lebten vom Fischfang, wie im Museum Blasket Centre dokumentie­rt ist.
FOTOS (2): THE BLASKET CENTRE Die Bewohner der Blasket Islands lebten vom Fischfang, wie im Museum Blasket Centre dokumentie­rt ist.
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Der Schriftste­ller Thomas O’Crohan

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