Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Verlassene Dichterinsel im Atlantik
Drei Meilen vor der Küste der irischen Grafschaft Kerry liegen die Blasket Islands – verlassen seit 70 Jahren. In Geschichten und Erzählungen ließen sie einen literarischen Schatz für die Nachwelt zurück.
Dunquin an der irischen Westküste: Das schwarze Schlauchboot der „Laird of Staffa“, eine Mischung aus Fischkutter und Ausflugsdampfer, holt uns vom kleinen Pier des 180-Seelendorfes ab. Wir tragen rote Schwimmwesten, der Atlantik schaukelt ordentlich. Skipper Kevin Wright steht im Ruderhaus am Steuerrad. Der Mittvierziger, Spitzname „Skelly“, tätowiert, hält Kurs auf das offene Meer. In der Ferne erscheint eine zerklüftete und baumlose, aber grüne Insel. Great Blasket, die wohl berühmteste Geisterinsel Irlands ist über fünf Kilometer lang und einen Kilometer breit. Nur 20 Minuten dauert die Überfahrt, doch es ist eine Zeitreise.
Über mehrere Jahrhunderte hatten Menschen hier eine Heimat. Noch im 20. Jahrhundert lebten sie völlig unberührt von modernen Einflüssen: ohne Radio, Strom und ohne fließend Wasser. Eine Insel, auf der es keine Läden und keine Handwerker gab, wo nur überleben konnte, wer geschickt in allen möglichen Arbeiten war. Immer von Stürmen gebeutelt und vom Hungertod bedroht. Doch das ist Geschichte. Heute lebt niemand mehr hier, nur ein paar Grundmauern verlassener Höfe stehen noch. „Bewohnt waren die Inseln bis 1953“, erzählt Wright, „viele berühmte Schriftsteller kamen von den Blaskets.“
Am Mini-Anleger von Great Blasket wird die Besuchergruppe ausgebootet. Wanderschuhe mit Profil sind hier ein Muss: Der Felsen ist nass von der Gischt, die Wiese weiter oben wellig und von Kaninchenbauten durchlöchert. Viermal, sagt Skelly, müsse innerhalb eines Jahres der Rettungshubschrauber vom Festland kommen und Knöchelverletzte von der Insel holen. Hinkend schafft es niemand zurück.
Vom Anleger geht es 50 Meter bergauf bis ins Dorf – ein Geisterdorf. Von rund einst 30 bewohnten Häusern sind fünf renoviert und weiß gestrichen. Zwei dienen als Gästehäuser, eines als Café, ein weiteres als Unterkunft für die Inselführer. Das berühmteste Haus wurde nach historischen Plänen wiederaufgebaut. Und alle Besucher wollen das als Erstes sehen.
Hier schrieb der Fischer, Bauer und Schriftsteller Tomás Ó Criomhthain (Englisch Thomas O’Crohan) über das Inselleben. Das Mobiliar ist zwar Marke Nachbau, aber der bekannteste Roman aus seiner Feder „Die Boote fahren nicht mehr aus“(erschienen 1929) gilt als bedeutendes Werk der irischen Literatur. Jedes Kind in Irland kennt es als Pflichtlektüre aus der Schule. Es wurde in zig Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche von Annemarie
und Heinrich Böll. Der Literaturnobelpreisträger und Irland-Fan hatte in der Nähe ein Ferienhaus, lebte und arbeitete hier. Ob er jemals auf Great Blasket war, weiß niemand. Aber mit seinen kraftvollen, lebendigen Bildern war Ó Criomhthain für Böll eine authentische Stimme – ganz anders als das geschichtsvergessene und aufstrebende Nachkriegsdeutschland.
Tomás Ó Criomhthain ist nur einer, aber sicher der berühmteste jener Inseldichter, die über 40 Romane und Erzählungen hinterlassen haben. Weltrekord, denn kein anderer Ort auf diesem Planeten kann bezogen auf die Zahl seiner Einwohner eine derartige Buchproduktion vorweisen. Manche dieser Werke sind zu Klassikern der irischen Literatur geworden.
Heute ragen die verbliebenen Grundmauern der Blasket-Behausungen aus Feldsteinen und Mörtel trotzig stolz in den blauen irischen Himmel. Der Blick von hier oben über grüne Hügel auf einen mehr als 200 Meter breiten Sandstrand mit Seehundkolonie und auf den dunkelblauen Atlantik hält jeden gefangen. 25 Familien wohnten hier 1916, 179 Menschen.
Muireann Ní Chearna, Enkelin eines Bewohners, führt durch das verlassene Dorf. Sie arbeitet für das Blasket Centre gegenüber der Insel in Dunquin. Auch ihre Familie blieb von Tragödien nicht verschont: Der Sohn der Urgroßeltern starb an Meningitis, denn niemand auf der Insel kannte die Krankheit oder konnte sie behandeln: „Mein Ur-Großvater hat immer gesagt: Nicht die Meningitis hat Seáinín umgebracht, sondern die Behörden, die ihn im Stich gelassen hatten.“Der Großonkel wurde nur 24 Jahre alt, sein Tod liegt schon 70 Jahre zurück, aber in der fensterlosen Ruine ohne Dach sind die Geister der Vergangenheit noch immer lebendig.
Die Hälfte der Familie emigrierte Anfang der 1950er-Jahre nach Springfield (Massachusetts). Links war die Feuerstelle, an der „meine Großmutter Gemüse und manchmal Fisch gekocht hat“, erklärt Muireann, darüber trockneten die Fischernetze und die Kleidung. „Gegenüber stand ein Sofa, auf dem auch geschlafen wurde. Im Nebenraum standen weitere Betten.“Mehr gab es nicht.
Bis 1953 lebten ihre Vorfahren unter einfachsten Bedingungen. Doch schafften sie es, dem fruchtbaren Eiland genügend abzutrotzen, um zu überleben. Und sie pflegten ihre
Sprache und ihre Geschichten: von tollkühnen Meeresfahrten und Jagden, von Festen mit Spiel und Trunk, von Jubel und Trauer, von bitterem Hunger, wenn der Fischfang missglückte, von Saus und Braus, wenn der Wind das begehrte Strandgut eines verlorenen Schiffes an die Insel spülte. Sie sprachen ein reines Irisch. Und sie erzählten so gut, dass Gelehrte vom Festland kamen und sie anspornten, ihre Geschichte so aufzuschreiben, wie sie auch mündlich über ihre Inselwelt erzählen würden.
Tomás Ó Criomhthain musste dafür erst lernen, Irisch zu schreiben, denn seit Einführung der Schulpflicht 1830 war Englisch die Landessprache. Er nahm das Ende der Gemeinschaft voraus als er schrieb: „Ich habe mein Bestes getan, die Eigenart der Menschen festzuhalten, denn Menschen wie uns wird es nicht mehr geben.“
In den 1940er-Jahren bekamen die Bewohner eine Telegrafie-Anbindung für Notfälle. So wie 1947, in dem Jahr als das letzte Kind der Insel zur Welt kam: „Vom Sturm abgeschnitten – in Not – nichts mehr zu essen – schickt Lebensmittel – Blaskets.“
Heute ist jede Menge Gras über die Geschichte der Blasket Islands gewachsen, aber vergessen ist sie nicht. Naturliebhaber schlagen ihre Zelte auf und bestellen im Café eine Tasse Tee mit Scones. Wer im Gästehaus übernachtet, bekommt für fünf Euro ein Frühstück mit Porridge serviert. Strom gibt es immer noch nicht, und der Handyempfang ist alles andere als verlässlich.
Es ist dieses Gefühl der Zeitlosigkeit, das jeden erfasst, der Great Blasket besucht. Was Menschen vor 100 Jahren sahen, sieht heute noch genauso aus. Nach knapp drei Stunden Aufenthalt müssen wir wieder abwärts steigen zum Anleger. Skelly wartet mit dem Schlauchboot. Der Wind hat zugenommen. Er kann nicht garantieren, ob er später überhaupt noch in See stechen kann. Die Überfahrt könnte heikel werden.