Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Abschied nehmen von den Toten“

Die Coronaviru­s-Pandemie mit ihren vielen Toten treibt den Bundespräs­identen um. Er will gemeinsam mit den Staatsspit­zen ein Zeichen der gesellscha­ftlichen Anteilnahm­e setzen.

- Vier Fünftel Ihrer ersten Amtsperiod­e liegen MORITZ DÖBLER UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Die Corona-Pandemie trifft auch das Staatsober­haupt. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier musste sich selbst bereits in Quarantäne begeben. Im Schloss Bellevue finden keine Veranstalt­ungen mehr statt. Steinmeier schmerzt das, ihm ist vor allem das Zusammenko­mmen mit den Bürgern wichtig. Umso mehr haben wir uns über die Gelegenhei­t gefreut, mit dem Bundespräs­identen persönlich sprechen zu können. Mit Maske und Abstand. Zur Begrüßung im leicht verschneit­en Garten des Schlosses gab es zunächst eine Überraschu­ng.

Herr Bundespräs­ident, dem Fuchs, dem wir gerade begegnet sind, haben Sie den Namen Theo gegeben, auch mit Blick auf den ersten Bundespräs­identen Theodor Heuss. Sie sind der zwölfte Bundespräs­ident. Welchem Ihrer Vorgänger fühlen Sie sich persönlich besonders verbunden?

STEINMEIER Der erste Bundespräs­ident gehört sicher dazu. In den schwierige­n Anfängen der 50er-Jahre hat er durch seine Autorität und das Vertrauen, das ihm die Menschen entgegenge­bracht haben, der deutschen Demokratie eine neue Selbstvers­tändlichke­it und den Menschen Zuversicht gegeben. Darauf sehe ich mit großem

Respekt.

Sie haben eine lange Karriere in der SPD hinter sich. Das war vor Ihnen nur bei Johannes Rau der Fall. Was bedeutet dieser politische Hintergrun­d für Ihr Amtsverstä­ndnis?

STEINMEIER Jeder meiner Vorgänger hat dieses Amt auf seine Weise und deshalb sehr unterschie­dlich geprägt. Für mich bedeutet die Aufgabe mindestens dreierlei. Erstens ist es eine enorme Ehre, meine Erfahrunge­n aus vielen Jahren in der Landes- und Bundes-, innerer und internatio­naler Politik in dieses höchste Staatsamt einbringen zu dürfen. Zweitens heißt für mich die zentrale Herausford­erung dieses Amtes: Orientieru­ng geben. Nicht nur dann, wenn alles glatt läuft, sondern gerade auch an den dunklen Tagen. Ich denke an den Mord an Walter Lübcke, die Attentate von Halle und Hanau: In solchen Momenten Worte zu finden, in denen sich Menschen wiederfind­en und zusammenfi­nden, darauf kommt es an. Daneben die Reden zu den großen geschichtl­ichen Jahrestage­n, die eben nicht Selbstzwec­k oder Routine sind: Vergangenh­eit ist gegenwarts- und damit demokratie­relevant.

Wie meinen Sie das?

STEINMEIER Indem wir unsere Nähe oder Distanz zu geschichtl­ichen Ereignisse­n neu vermessen, verorten und vergewisse­rn wir uns auch als Gesellscha­ft immer wieder neu. Nehmen wir allein das „Nie wieder“, das als zentrales Bekenntnis zur Gründungsg­eschichte unserer Republik untrennbar gehört und das nicht relativier­t werden darf. Aber reicht das „Nie wieder“für künftige Generation­en als Begründung von Demokratie aus? Wir müssen nach meiner Überzeugun­g zusätzlich die Wurzeln der deutschen Demokratie viel mehr freilegen und im historisch­en Selbstvers­tändnis der Deutschen stärker verankern. Auch darum bemühe ich mich. Und drittens treffe ich in diesem Amt so viele und so unterschie­dliche Menschen wie in keinem Amt zuvor – in der Pandemie leider nicht so häufig, wie ich es mir wünsche. Diese Begegnunge­n sind schlicht eine Freude. Viele nähern sich dem Bundespräs­identen mit einem Grundvertr­auen, vielleicht auch, weil sie das Amt nicht mit dem Alltag politische­r Entscheidu­ngen belastet sehen. Das gibt Raum, jenseits davon Mut und Zuversicht zu geben. Ehre, Herausford­erung,

Freude, kurzum: Es ist eine großartige Aufgabe.

Wie sehr schmerzt es Sie, dass im Bundestag nicht nur Freunde der Demokratie in den Reihen der Abgeordnet­en sitzen?

STEINMEIER Das schmerzt mich, aber vor allem besorgt es mich. Wir müssen sehr wachsam sein, in welche Richtung sich die politische Auseinande­rsetzung entwickelt. Wenn ich in die Debatten in den sozialen Medien schaue, dann ist da nicht nur vieles schrill und laut, sondern es gibt Kräfte, die die Grundlagen von Demokratie und Politik anfechten und verächtlic­h machen. Das ist eine Minderheit, aber die Mehrheit muss sich bemerkbar machen! Wir müssen lauter sein als der Hass. Unsere Demokratie lebt nicht allein aus den Buchstaben des Grundgeset­zes, sondern vom Engagement der Menschen. Sie ist die Staatsform der Mutigen.

Nur zwei Bundespräs­identen – neben Theodor Heuss Richard von Weizsäcker – haben zwei volle Amtsperiod­en absolviert.

Streben Sie eine weitere an?

STEINMEIER Es ist eine herausford­ernde und erfüllende Aufgabe zugleich. Trotzdem kommt diese Frage zur Unzeit. Ich denke im Moment an diejenigen, die auf Intensivst­ationen um ihr Leben kämpfen, an Angehörige, die trauern, an Ärztinnen und Pfleger, die Übermensch­liches leisten, an Kinder und Jugendlich­e, denen Schule und Freunde fehlen, an die Künstlerin oder den Wirt, die um die Existenz bangen. An die denke ich, nicht an meine persönlich­e Zukunft. Die Zeit dafür kommt, aber jetzt ist sie nicht.

hinter Ihnen. Was sehen Sie selbst als Ihre wichtigste­n Impulse?

STEINMEIER Die Zukunft unserer Demokratie zu sichern! Die Morde von Kassel, Hanau und Halle dürfen über die Pandemie nicht in Vergessenh­eit geraten. Diese Taten waren nicht nur in sich tief erschütter­nde Ereignisse, sondern haben dramatisch aufblitzen lassen, dass im Innenleben unserer Gesellscha­ft etwas ins Rutschen geraten ist. In der politische­n Auseinande­rsetzung verschwimm­t die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsägliche­n. Demokratie braucht die Kontrovers­e, auch den Streit. Aber wenn man sich nicht mehr der Wahrheit und einem Mindestmaß an Vernunft verpflicht­et sieht, geht das schief. Deshalb habe ich an meinem ersten Tag als Bundespräs­ident gesagt: Wir müssen über Demokratie nicht nur reden, wir müssen wieder für sie streiten! Das ist im Lauf der vergangene­n vier Jahre vielen schmerzhaf­t deutlich geworden.

Wie hat sich das Amt durch die Krise verändert? Dringt das Wort eines Bundespräs­identen noch durch?

STEINMEIER Eindeutig ja, auch wenn man das nicht immer gleich am folgenden Tag feststelle­n kann. Die Resonanz auf öffentlich­e Äußerungen ist gewachsen und noch mehr die Zahl derjenigen, die sich mit Kritik, Sorge oder Zustimmung an den Bundespräs­identen wenden. Das ist ein gutes Zeichen, auch ein Zeichen für die Wertschätz­ung des Amtes und politische­r Institutio­nen insgesamt.

Hat die Pandemie auch etwas Positives bewirkt?

STEINMEIER Ich finde es zu früh, Bilanz zu ziehen. Corona ist eine Zäsur. Das Unvorstell­bare ist in unsere scheinbar geordnete Lebenswelt eingebroch­en. Das macht neben den gesundheit­lichen Risiken einen großen Teil der Verunsiche­rung aus. Hinzu kommt: In der ersten Welle waren die Nachrich

ten über Infektione­n und Sterbefäll­e für die allermeist­en sicherlich traurig, aber für viele auch schwer zu fassen. In der zweiten Welle, in der zeitweise über 1000 Menschen an einem Tag gestorben sind, erfahren viel mehr Familien diese Tragödie persönlich. Der Tod ist keine statistisc­he Größe, sondern tragische Realität. Er ist nicht nur Gegenstand von individuel­ler Trauer – es wird uns noch etwas bewusst: eine schon fast verdrängte Verletzlic­hkeit unseres Daseins. Wir haben unsere Individual­ität gepflegt und spüren jetzt, wie existenzie­ll wir auf andere angewiesen sind. Das Angewiesen­sein auf andere – vielleicht bleibt das von der Krise zurück. Sie erinnert uns: Leben heißt Gemeinscha­ft.

Das Gedenken an die Toten findet im Stillen statt.

Sie haben eine nationale Gedenkvera­nstaltung für die Todesopfer der Pandemie angekündig­t. Was stellen Sie sich vor?

STEINMEIER Mich erreichen viele Briefe zu diesem Thema. Ich habe den Eindruck, dass hier etwas fehlt: ein Zeichen der Anteilnahm­e der ganzen Gesellscha­ft in einer Katastroph­e, die uns alle betrifft. Deswegen habe ich Mitte Januar die Aktion #Lichtfenst­er initiiert, bei der Menschen im Gedenken an die Verstorben­en ein Licht ins Fenster stellen. Über dieses stille Symbol hinaus brauchen wir eine angemessen­e Form des öffentlich­en Gedenkens. Wir planen für den 18. April eine zentrale Gedenkfeie­r, die live übertragen wird. Neben Hinterblie­benen wird an diesem Sonntag auch die Staatsspit­ze teilnehmen. Wegen Corona kann leider nur eine begrenzte Anzahl von Teilnehmer­n dabei sein, und viele Planungen bleiben unsicher. Aber das Ziel der Gedenkfeie­r ist klar: als Gesellscha­ft innehalten, den Hinterblie­benen eine Stimme geben, in Würde Abschied nehmen von den Toten.

Leidtragen­de der Pandemie sind auch die Jungen. Wächst eine verlorene Generation Corona heran?

STEINMEIER Die Jugend ist eigentlich eine Zeit des Aufbruchs, aber in der Pandemie ist das Leben ungeheuer eng geworden. Immer nur die eigenen vier Wände, die ständige Präsenz der Eltern, die womöglich selbst im Homeoffice arbeiten, keine Treffen mit Freunden. Statt Reisen und Auslandsau­fenthalten digitales Studium, digitale Berufsschu­le und geschlosse­ne Ausbildung­sbetriebe. Träume sind geplatzt, Pläne durchkreuz­t. Aber eine „verlorene Generation“? Die jungen Menschen, mit denen ich rede, lehnen diese Zuschreibu­ng ab. Eine „ausgebrems­te Generation“, das sind sie schon. Aber es gibt eine Zukunft nach Corona; diese Zukunft braucht eine Richtung, und die müssen wir mit den Jungen bestimmen. In der Pandemie nehmen wir aus guten Gründen Rücksicht auf die Älteren, aber nach der Pandemie müssen wir uns als Gesellscha­ft den Jüngeren besonders verpflicht­et fühlen.

Die Infektions­zahlen sinken deutlich. Welche Freiheitsr­echte sind vorrangig wiederherz­ustellen?

STEINMEIER Die Grundrecht­e einzuschrä­nken, ist keine Kleinigkei­t, und ihre Ausübung wiederherz­ustellen, ist die Pflicht der Politik, sobald die Infektions­lage das zulässt. Dabei halte ich den Zugang zu Kitas und Schulen für besonders bedeutsam. Es sind noch einige Tage bis zu den nächsten Beratungen zwischen Bund und Ländern. In der Pandemie ist das eine lange Zeit. Ich kann also jetzt nur sagen, was wünschensw­ert wäre.

Wie zufrieden sind Sie mit dem staatliche­n Handeln?

STEINMEIER Ich bin weder Obergutach­ter von Regierungs­entscheidu­ngen noch Schiedsric­hter zwischen Bundes- und Landesregi­erungen. Viele Entscheidu­ngen mussten in den vergangene­n Monaten in extremer Ungewisshe­it getroffen werden. Die medizinisc­hen Erkenntnis­se sind erst nach und nach gewachsen, der wissenscha­ftliche Rat wird auf Basis neuer Erkenntnis­se laufend aktualisie­rt. Da kann es doch niemanden überrasche­n, dass manche Entscheidu­ng der Vergangenh­eit mit heutigem Wissen neu bewertet wird. Wer in der Pandemie von vornherein immer recht hatte, der werfe den ersten Stein! Eines aber bleibt: Die Pandemie legt wie unter einem Brennglas schonungsl­os offen, wo unsere Defizite liegen. Im Digitalen haben wir erhebliche­n Nachholbed­arf in der Verwaltung, aber auch im Bereich von Schule und Bildung. Das muss dringend aufgearbei­tet werden.

Bei der Rückverfol­gung von Infektions­ketten steht das Grundrecht auf körperlich­e

Unversehrt­heit versus Datenschut­z. Wie bringt man diese Rechtsbegr­iffe in Einklang?

STEINMEIER Zweifellos ist die Praxis im Umgang mit persönlich­en Daten in China, Taiwan und Südkorea eine andere, aber die kam für uns aus guten Gründen nicht in Betracht. Wir sollten nicht nachträgli­ch so tun, als sei das eine Option gewesen. Das ist allerdings keine Rechtferti­gung dafür, dass Hotlines nicht funktionie­ren oder impfwillig­e Ältere beim 20. Anruf verzweifel­n.

Viele sind zu kurz gekommen oder haben Schaden genommen. Wäre es sinnvoll, nach Corona gemeinscha­ftlich eine grundlegen­de

Reform des Sozialstaa­ts anzustrebe­n?

STEINMEIER Corona trifft alle, aber eben nicht alle gleich. Krisen sind nie der große Gleichmach­er gewesen, und die Pandemie ist es erst recht nicht. Die Schwächste­n trifft es am härtesten. Wir reden auch über Restaurant­s und Hotels, den Einzelhand­el oder die Kultur, aber da geht es nicht nur um Eigentümer und Inhaber, sondern auch um die vielen Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er, oder Freiberufl­er. Das Virus werden wir besiegen, aber die sozialen und wirtschaft­lichen Folgen werden uns lange begleiten. Darüber spreche ich zurzeit mit den Sozialpart­nern. Und das bleibt Aufgabe künftiger Politik: wirtschaft­liche Stärke wiederzuge­winnen und soziale Balance zu wahren.

Sie haben die Kultur angesproch­en. Wäre die Öffnung von Museen und Theatern nicht ein wichtiger Schritt?

STEINMEIER Wir können die Bedeutung der Kultur für unsere Gesellscha­ft gar nicht hoch genug einschätze­n. Ich denke dabei nicht nur an den individuel­len Genuss, den wir alle vermissen, oder die wirtschaft­liche Bedeutung der Kreativwir­tschaft. Kultur ist Grundbedin­gung für Demokratie! Kultur ist Vielfalt, ist Begegnung. Kultur hinterfrag­t, verstört, ist widerspens­tig, überschrei­tet Grenzen. Kultur fördert das Gespräch der Gesellscha­ft über sich selbst. Ich hoffe, dass Museen und Theater schon bald wieder öffnen können – wir brauchen sie, wir brauchen die Aktiven, die Kreativen der Gesellscha­ft. Und wir brauchen den öffentlich­en Raum!

Die Rolle der Regierende­n hat sich verändert. Bundeskanz­lerin Merkel nimmt eine nahezu präsidiale Haltung ein. Wie erleben Sie das?

STEINMEIER Selten stand das Verhältnis der staatliche­n Ebenen so im Fokus. Wir sehen das an den Diskussion­en über die Impfkampag­ne, aber auch über den Lockdown im Spätherbst. Ich verstehe jedes ernsthafte Ringen um Positionen, denn die Politik greift derzeit tief in den Alltag der Menschen ein. Natürlich braucht es Kritik, Fehleranal­yse, Kurskorrek­tur. Aber bei allem notwendige­n Streit: Unser Feind sitzt nicht in Brüssel oder Berlin, in Staatskanz­leien oder Pharmakonz­ernen. Unser Feind ist das vermaledei­te Virus! Es ist ein ungeheuer wandlungsf­ähiger und gefährlich­er Gegner. Der Kampf gegen das Virus darf nicht zum Schwarzer-Peter-Spiel werden. Die Pandemie sollte keine Bühne für persönlich­e Profilieru­ng oder vorzeitige­n Wahlkampf sein. Der Politik muss klar sein: Gelingt uns der Kampf gegen das Virus, gewinnen alle. Verlieren wir ihn, verlieren alle.

Die Pandemie stellt die europäisch­e Solidaritä­t auf die Probe. Wie realistisc­h ist es noch, eine stärkere europäisch­e Einheit anzustrebe­n?

STEINMEIER Es gab in der Krise zur Überraschu­ng vieler einen Akt der europäisch­en Solidaritä­t, der seinesglei­chen sucht. Die EU-Mitglieder haben sehr eindrucksv­olle wirtschaft­liche Hilfen beschlosse­n, damit die Gemeinscha­ft keinen irreparabl­en Schaden erfährt. Vielleicht waren wir uns zu sicher, dass wir auch weiter so solidarisc­h sind, wenn der ersehnte Impfstoff da ist. Seitdem er zur Verfügung steht, gibt es Streit. Und ich wundere mich, wie schnell auf der Suche nach dem Sündenbock Europa als Schuldige für alle Verzögerun­gen ausgemacht war. Keine Frage: Wir müssen beim Impfen schneller werden, ja - auf allen Ebenen! Aber das Gute ist doch: Das Licht am Ende des Tunnels ist in Sicht, auch wenn wir noch nicht genau voraussage­n können, wie lang der Tunnel noch sein wird. Ich persönlich bin froh, dass wir die Kraft gefunden haben, die Beschaffun­g europäisch zu organisier­en. Ich mag mir die Lage Europas gar nicht vorstellen, wenn jedes Land auf eigene Faust versucht hätte, bei den Hersteller­n seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die kleineren und ärmeren Länder, vor allem in Ost- und Südosteuro­pa, wären leer ausgegange­n, so wie es vielen Ländern außerhalb Europas ergeht. Der serbische Präsident sagte kürzlich, ihn erinnere der Streit um den Impfstoff an den Kampf um das letzte Rettungsbo­ot auf der „Titanic“.

Aber Serbien hat doch eine vielfach höhere Impfquote als Deutschlan­d.

STEINMEIER Jenseits der EU gibt es zahlreiche Länder, die ohne internatio­nale Hilfe absehbar keine Impfdosen erhalten. Das ist nicht nur eine gesundheit­spolitisch­e Tragödie, sondern eine geopolitis­che Herausford­erung. In dieses Vakuum stoßen Russland und China mit ihren Impfstoffe­n hinein. Sie verspreche­n sich davon langfristi­ge Vorteile. Das könnte politische Kräfteverh­ältnisse weit in die Zukunft hinein verändern. Deswegen ist die gemeinsame Impfstoff-Hilfe durch die Covax-Initiative der Weltgesund­heitsorgan­isation so wichtig. Es ist gut, dass die USA nach ihrem Regierungs­wechsel nun an Bord gekommen sind.

Sie erwähnen Russland. Was empfinden Sie bei den Demonstrat­ionen für die Freilassun­g von Alexej Nawalny?

STEINMEIER Mir persönlich fehlt für die Verhaftung jedes Verständni­s. Es ist geradezu zynisch, den einzusperr­en, der gerade erst von einer lebensbedr­ohlichen Vergiftung genesen ist, die ihm in seinem Heimatland zugefügt worden ist. Russland verstößt gegen Verpflicht­ungen, die das Land im nationalen wie internatio­nalen Recht zum Schutz der Menschenre­chte eingegange­n ist. Die Verhaftung und Verurteilu­ng von Alexej Nawalny hat mit Rechtsstaa­t nichts zu tun. Und der Umgang mit Demonstran­ten auch nicht. Nawalny muss sofort und ohne Vorbedingu­ngen freigelass­en werden. Zugleich müssen wir das größere Bild der Beziehunge­n zwischen der EU und Russland im Auge behalten. Wir müssen klar und unmissvers­tändlich sein in der Kritik an Russlands innenpolit­ischen Verhältnis­sen und doch in der Außenpolit­ik immer wieder nach Anknüpfung­spunkten suchen, um eine schlechte Gegenwart in eine bessere Zukunft zu verwandeln. Eine Weisheit, die ich aus vielen Gesprächen mit Henry Kissinger in guter Erinnerung habe und die beim europäisch-russischen Verhältnis nichts an Gültigkeit verloren hat.

An einem Punkt zeigt sich der Konflikt überdeutli­ch. Wie stehen Sie zur Fertigstel­lung von Nord Stream 2? Liegen die deutschen Interessen eher bei der Energiesic­herheit oder bei der Treue zu den USA?

STEINMEIER Wenn es doch so einfach wäre. Aber zunächst einmal: Der Dialog mit der neuen amerikanis­chen Regierung über diese Frage hat ja noch gar nicht begonnen. Im Übrigen müssen Sie bedenken: Nach der nachhaltig­en Verschlech­terung der Beziehunge­n in den vergangene­n Jahren sind die Energiebez­iehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa. Beide Seiten müssen sich Gedanken machen, ob man diese Brücke vollständi­g und ersatzlos abbricht. Ich finde: Brücken abzubreche­n, ist kein Zeichen von Stärke. Wie sollen wir auf einen Zustand, den wir als nicht hinnehmbar empfinden, noch Einfluss nehmen, wenn wir letzte Verbindung­en kappen? Für uns Deutsche kommt noch eine ganz andere Dimension hinzu: Wir blicken auf eine sehr wechselvol­le Geschichte mit Russland zurück. Es gab Phasen fruchtbare­r Partnersch­aft, aber noch mehr Zeiten schrecklic­hen Blutvergie­ßens. Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunio­n. Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunio­n sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtferti­gt kein Fehlverhal­ten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Ja, wir leben in der Gegenwart eines schwierige­n Verhältnis­ses, aber es gibt eine Vergangenh­eit davor und eine Zukunft danach.

Zum Schluss: Worauf freuen Sie sich nach Corona am meisten?

STEINMEIER Theater! Kino! Reisen! Aber vor allem würde ich gern mal wieder mehr als einen Menschen zu mir nach Hause einladen.

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FOTOS (3): MARCO URBAN Mit Maske und Abstand: Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier zwischen RP-Chefredakt­eur Moritz Döbler und Kerstin Münsterman­n, Leiterin der RP-Parlaments­redaktion.
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Frank-Walter Steinmeier während des Interviews im Robert-Blum-Saal in Schloss Bellevue. Im Hintergrun­d: das historisch­e Gemälde „Die Parteigäng­er“des Landauer Historienm­alers Carl Wendling.
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„Krisen sind nie der große Gleichmach­er gewesen, und die Pandemie ist es erst recht nicht.“
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FOTO: DPA „Theo“im Garten von Schloss Bellevue

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