Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
KEVELAER Wenn die Zirkusmanege leer bleibt.
Seit November ist die Circus-Familie Lutzny mit ihren Wohnwagen in Kevelaer gestrandet. Noch nie hat sie zuvor so lange irgendwo gelebt. Wie geht Zuhausebleiben, wenn man sonst immer unterwegs ist?
KEVELAER Mitten auf dem Hoogeweg in Kevelaer, wo sich das Jugendamt der Stadt mit einem Großhändler für Mineralöle, einer Edelstahl-Schlosserei und ein paar Einfamilienhäusern eine Straße teilt, hängt plötzlich dieses Schild an einem Zaun. Festgeschnürt mit Kabelbindern und doch wie aus der Zeit gefallen. „Circus“steht da, in blauer Schrift auf knallgelbem Grund, und untendrunter lacht ein Clown auf eine Art, wie es nur diese illustrierten Clowns tun können: mit weit aufgerissenem Mund, leicht gerunzelter Stirn und einem Ausdruck in den Augen, als träume er sich geradewegs in eine andere, bessere Welt hinein. Ein Schild wie ein Versprechen: nach Zuckerwatte, Manegen-Duft und Trommelwirbeln. Doch dann tritt man näher und liest das Kleingedruckte. „Der Circus darf nicht sterben“, heißt es dort. Mit Ausrufzeichen. Und: „Die Manege ist leer.“In Großbuchstaben.
Die Vorstellung erfolgt an diesem Tag im Februar also nicht in einem Zelt, sondern lediglich auf dem Bildschirm. Sabrina Lutzny sitzt in einem der Wohnwagen auf dem Platz hinter dem Zaun mit dem Schild und lässt mit ihren vier Kindern eine Diashow aus Fotos von vergangenen Auftritten auf dem Fernseher laufen: Da sieht man sie selbst, wie sie in dem Kostüm einer Bauernmagd in der Manege steht. Ihren Mann René Lutzny, der als Armor verkleidet die Artisten während der Show miteinander verkuppelt. Die 19-jährige Samantha, die an weißen Tüchern durch die Luft schwebt. Die 17-jährige Chantal, die als Schlangenmädchen ihren Körper verdreht. Der 15-jährige Joel, der auf übereinandergestapelten Stühlen in sechs Metern Höhe einen Handstand macht. Und der 13-jährige John, verkleidet als Dschinni aus der Wunderlampe.
Seit Anfang November ist die Familie Lutzny in Kevelaer gestrandet. Geplant war das nicht, natürlich nicht. Eigentlich sollten sie gerade wieder unterwegs sein, so wie sie auch im vergangenen Jahr schon unterwegs gewesen sein sollten.
Von März bis Ende November 2020 hätte die Familie eine Anstellung beim „Circus Pikard“in Österreich gehabt. Die Lutznys, die sonst mit weiteren Verwandten zusammen immer mit dem „Circus Montana (Lutzny)“als eigenständige Circus-Familie verreist waren, hatten beschlossen, bei einem größeren Unternehmen aufzutreten, um in Zukunft finanziell besser abgesichert zu sein. Doch dann kam der erste Lockdown und alle Vorstellungen fielen aus.
Im Juni konnten sie dann doch spielen, mit heruntergesetzten Gagen und hundert Zuschauern im 600-Personen-Zelt. Bis zum November: zweiter Lockdown, frühzeitiges Saisonende. Von Österreich aus fährt die Familie nach Kevelaer, als Zwischenstation für den Klever Weihnachtscircus. Doch auch der fällt aus, genau wie die Vorstellungen des „Circus Trapez“, mit dem sie ab Januar in Dänemark aufgetreten wären. „Man sagt ja immer, es ist mal mehr und mal weniger. Aber bei uns ist es gerade einfach nur noch weniger und weniger“, sagt Sabrina Lutzny.
Ihre Mutter lebt in Kevelaer, ebenfalls auf dem Hoogeweg. Auf dem Grundstück gegenüber von ihrem Haus hatten Freunde früher einen Getränkehandel, dort kann die Familie nun stehen, mit vier Wohnwagen: einer für John und Joel, einer für Chantal, einer für Samantha und einer für die Eltern. Die Tiere leben nun bei Bekannten in der Nähe, auf Koppeln und in Ställen. Es sind 40 insgesamt, darunter Ziegen, Esel, Ponys, Lamas, Kamele, Laufenten, Hunde, Hasen, Hühner und eine Kuh. Ein bis zwei Rundballen braucht die Familie pro Woche für ihre Versorgung. Jeden Morgen und jeden Abend fährt der Vater hin.
So steht das Circus-Leben schon seit Wochen still, aber ruhen kann die Familie nicht. Sabrina und René Lutzny stammen beide aus traditionellen Circus-Familien. Ihr Leben, das sah bisher so aus: montags Abbau und Transportwechsel, dienstags Aufbau in der nächsten Stadt, mittwochs Werbetafeln aufstellen und Flyer vorbereiten, donnerstags bis samstags je ein Auftritt und sonntags dann schon wieder Abbau. „Ein bisschen Improvisation ist man ja gewohnt aus der Manege, aber wenn man so lange an einem Ort ist, dann wird man schon wehmütig“, sagt Sabrina Lutzny.
Aktuell bekomme die Familie Hartz IV. „Weil wir immer nur saisonbedingt engagiert sind, fallen wir komplett durchs Raster und mussten uns arbeitslos melden“, sagt Sabrina Lutzny. Um das Futter für die Tiere bezahlen zu können, verkauften sie davor eine Zeit lang LED-Ballons in der Umgebung. Denn auch für die Familie reiche das Geld längst nicht mehr, sagt Sabrina Lutzny. Bei den Lkw müssen die Reifen ausgetauscht werden und in den Wohnwagen der Eltern regnet es rein. „Selbst wenn der Lockdown irgendwann aufgehoben wird, könnten wir nicht losfahren, weil die Fahrzeuge nicht mehr instand sind“, sagt Sabrina Lutzny.
Ihre Töchter haben ihre Abschlüsse bereits gemacht. Für Joel und John findet die Schule jetzt nur noch online statt. Das sind sie schon ein bisschen gewohnt, sie sind bei der „Schule für Circuskinder in NRW“angemeldet, waren immer nur für ein paar Wochen als Gastschüler in regulären Schulen. Die Langeweile aber, die ist neu. Denn auch das Training ist jetzt nicht mehr richtig möglich. Im vergangenen Jahr konnten sie noch eine Zeit lang im Fitnessstudio üben. Jetzt geht das nur noch draußen. Dann stemmt Chantal ihre Handflächen gegen den Wohnwagen und hangelt sich kopfüber herunter und Samantha lässt zwei grüne Reifen um die Arme kreisen und lächelt, als stehe sie immer noch in der Manege.
Manchmal, sagt Sabrina Lutzny, da komme jemand und sage, sie sollten doch einfach „etwas Richtiges“lernen. Dann könne sie nur mit dem Kopf schütteln. Sie habe ja einen Job, sie könne ihn im Moment einfach nur nicht ausüben. Ihre zwei Tanten seien Friseurinnen, ihre Cousine habe ein Bekleidungsgeschäft – auch die würden nun ohne alles dastehen. Und überhaupt: Was solle das schon heißen, „etwas Richtiges“? Als zähle der Circus da nicht zu. Und das sei schlichtweg falsch, sagt Lutzny, denn wie das sei, wenn all das nicht mehr da ist – die Clowns, die Artisten, die Jongleure – das sehe man ja gerade jetzt.