Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ich habe Rom um Eine Bewertung gebeten
KÖLN Der Erzbischof von Köln, Rainer Maria Kardinal Woelki, hält ein Missbrauchsgutachten weiter unter Verschluss. Diese Entscheidung stößt auf viel Kritik im Bistum.
Herr Kardinal Woelki, Karin Kortmann vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken sah in Ihrer Wortmeldung bei der Synodalversammlung ein neues Angebot zur Mitarbeit beim Synodalen Weg. War es so gemeint?
WOELKI Zunächst einmal war es gut, dass Betroffene auf der Synodalversammlung im Mittelpunkt standen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven einbringen konnten. Das war ein wichtiger und überfälliger Schritt. Zudem habe ich bis heute immer aktiv an den Themen des Synodalen Weges mitgearbeitet. Nach der letzten Regionalkonferenz „Synodaler Weg“in Frankfurt habe ich etwa neben Wortbeiträgen im Anschluss an die Konferenz von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, schriftlich Voten einzureichen.
Warum haben Sie das Angebot der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) nicht angenommen, das Gutachten auf der Kanzlei-Website und in rechtlicher Verantwortung der Kanzlei zu publizieren?
WOELKI Weil wir nicht sehenden Auges geltendes Recht brechen können. Wir haben seit Anfang letzten Jahres mit WSW über die Zweifel kommuniziert, dass diese Art der Begutachtung angreifbar ist. Wegen der möglichen Verstöße gegen das Persönlichkeits- und das Äußerungsrecht bestand die Gefahr, dass dieses Gutachten gar nicht das Licht der Welt erblickt und vorher weggeklagt wird. So würde es seine Aufgabe, klar Namen zu nennen, verfehlen. Das hilft niemandem – vor allem nicht den Betroffenen.
Das WSW-Gutachten haben Sie nicht gelesen. Die Zurückhaltung der WSW-Studie beruht somit ausschließlich auf der Einschätzung anderer Juristen. Können Sie das für eine so schwerwiegende Entscheidung verantworten?
WOELKI Ich habe versprochen, nicht vorab Einblick zu nehmen. Und ich bin kein Jurist. Da muss ich mich auf das Urteil der Fachleute verlassen. Was denn sonst? Und deshalb haben wir auch mehrere unabhängige Meinungen eingeholt. Aber ich bin sicher, dass wir mit dem Gercke-Gutachten eine solide und methodisch sehr gute Basis für die weitere Aufarbeitung haben. Die Betroffenen haben ein Anrecht zu erfahren, was genau passiert ist. Ihnen soll so weit Gerechtigkeit zukommen, soweit es irgendwie möglich ist.
Am 18. März soll das GerckeGutachten veröffentlicht werden; und es soll die Möglichkeit geben, zumindest Einblicke ins WSWGutachten zu bekommen. Dann steht gewissermaßen Gutachten gegen Gutachten. Wie sollen Betroffene und Verantwortliche damit umgehen?
WOELKI Das Gutachten von Professor Björn Gercke ist für mich ein wichtiger Schritt im Prozess der Aufklärung. Damit halte ich mein Versprechen, ein veröffentlichungsfähiges Gutachten vorzulegen. Aber das muss allen klar sein: Das ist nur ein Etappenziel, kein Endpunkt. Die Aufarbeitung muss weitergehen. Ich bin mir sehr sicher, dass wir damit einen wirklich tragfähigen Boden haben. Deshalb haben wir ja auch mit Professor Gercke einen Strafrechtler beauftragt, der von Experten für Kirchenrecht unterstützt wird. Er hat zum Beispiel alle handschriftlichen Notizen aus den Personalakten genutzt. Und er wertet 236 Fälle systematisch aus, nicht nur 15 exemplarische Fälle, wie es die Münchner angeblich gemacht haben. Und dann müssen wir weitermachen. Einiges setzen wir ja bereits um!
Was heißt das konkret?
WOELKI Unser Schutzkonzept an den erzbischöflichen Schulen feiert gerade seinen dritten Geburtstag. Wir bauen die Interventionsstelle kontinuierlich aus. Seit zehn Jahren gibt es die Präventionsarbeit im Erzbistum. Und die Prävention wird immer weiterentwickelt – bei Priesterausbildung und Fachkräften zum Beispiel. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Er war schwierig, er wird es auch bleiben, und wir sind noch lange nicht am Ende. Auch hier erhoffe ich mir von der unabhängigen Untersuchung Hinweise, was wir noch besser machen müssen.
Sie haben gesagt, Sie würden Verantwortung übernehmen für die Fehler, die gemacht wurden. Wie wollen Sie das tun?
WOELKI Jeder Entscheidungsträger muss Rechenschaft ablegen für sein Tun und Unterlassen. Das gilt für mich, und es gilt für andere in unserem Erzbistum. Von Beginn der Untersuchung an ging es mir darum, mögliche Fehler und Versäumnisse von Verantwortlichen deutlich zu benennen. Dazu gehört auch das Nennen der Namen von Verantwortlichen. Denn Verantwortung ist persönlich. Nach dem 18. März, nach den Ergebnissen der unabhängigen Untersuchung von Professor Gercke sind wir in der Lage, die organisatorischen, strukturellen oder systemischen Fehler und Versäumnisse im Erzbistum zu benennen. Dann geht es darum, diese Fehler zu beheben. Es werden also Konsequenzen gezogen.
Heißt das auch, dass Sie möglicherweise von Ihrem Amt des Kölner Erzbischofs zurücktreten werden, für den Fall, dass auch Ihnen das Gercke-Gutachten ein pflichtwidriges Verhalten attestiert?
WOELKI Die Übernahme von Verantwortung, die ich von allen anderen verlange, werde ich auch mir abverlangen. Das habe ich seit Beginn der Aufarbeitung gesagt.
Wie unabhängig ist eine Aufklärung, wenn von der Kirche als Auftraggeber Gutachten zurückgehalten und neue Gutachten in Auftrag gegeben werden? Wie ist da der Verdacht der Vertuschung auszuräumen?
WOELKI Unabhängigkeit und Objektivität sind möglich, wenn sich ein Gutachten an methodische Standards hält. Deshalb werden wir ja nach dem 18. März einen Vergleich der Gutachten möglich machen. Zunächst für Betroffene und dann für Journalisten und weitere Interessierte. Transparenz ist das beste Mittel, um zu zeigen, dass es hier keine Vertuschung gibt.
Sollte die Kirche die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und die Publikation der Ergebnisse komplett in externe Hände geben?
WOELKI Wir sind da in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem unabhängigen Beauftragten, Johannes-Wilhelm Rörig, auf einem guten Weg. Natürlich ist ein Blick von außen notwendig und hilfreich. Deshalb sind wir auch in Abstimmung mit der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. So können wir die Aufklärung weiter vorantreiben: unabhängig, transparent, zum Wohle der Betroffenen.
Im Fall des beschuldigten Pfarrers O. aus Düsseldorf, den Sie nicht nach Rom meldeten, haben Sie betont, Ihr Gewissen geprüft zu haben, ob die Entscheidung richtig gewesen sei. Fällt ein eigenes Urteil aber nicht besonders schwer, wenn Sie sich dem Verdächtigen viele Jahre verbunden fühlten?
WOELKI Das Gutachten von Professor Gercke wird auch meine Rolle in diesem Fall beurteilen.
Stehen Sie in Kontakt mit Rom, wo möglicherweise ja geprüft werden soll, ob ein pflichtwidriges Verhalten vorliegt?
WOELKI Ich habe ja, neben meiner persönlichen Einschätzung, selbst um eine zweite objektive Bewertung aus Rom gebeten.
Wie sind der Schaden und der Misstrauensverlust im Erzbistum wiedergutzumachen?
WOELKI Ich habe als einer der Ersten einen Betroffenenbeirat ins Leben gerufen. Dann habe ich die unabhängige Untersuchung mit Nennung von Namen und Verantwortlichkeiten beauftragt. Das war alles neu. Auf dem Weg habe auch ich Fehler gemacht, und die sind in der Tat schmerzlich. Ich hoffe sehr, dass der Vertrauensverlust wiedergutzumachen ist. Vielleicht ist die Veröffentlichung der Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung ein erster Schritt. Ich stehe weiterhin zu meiner Überzeugung: die Sicht der Betroffenen einzunehmen, Gerechtigkeit für sie zu ermöglichen, Verantwortliche zu benennen und spürbare Konsequenzen zu ziehen. Und vor allem zuzuhören, sich Zeit für den Austausch zu nehmen.
Das Erzbistum erlebt in der Debatte um Missbrauch die schwerste Krise seiner Geschichte. Im Mittelpunkt: der Erzbischof.