Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die Dauerwelle als Politik-Ersatz

- VON ANTJE HÖNING

Kanzlerin und Länderchef­s sind nicht zu beneiden: Sie müssen einen Kurs steuern, der das Land vor einer dritten Infektions­welle bewahrt und zugleich Schulen wie Wirtschaft im Blick hat. Doch dabei haben sie nun den Kompass für das Wesentlich­e verloren. Friseure und Fußpfleger dürfen öffnen, viele Schüler sitzen im Homeschool­ing fest. Was ist das für ein Land, in dem Dauerwelle­n wichtiger sind als Bildung? Schon im Frühjahr mussten Schulhäuse­r vor Möbelhäuse­rn schließen. Nordrhein-Westfalen habe wirtschaft­liche Interessen, hieß es. Nun sagt Laschet, bei Älteren seien die Dienstleis­tungen für das „gesundheit­liche Empfinden“wichtig. Hat er mal mit Lehrern gesprochen, wie es um das gesundheit­liche Empfinden von Kindern steht, die seit Wochen zu Hause lernen – darunter solche, die keinen eigenen Schreibtis­ch oder helfende Eltern haben? Hört er nicht, wie Kinderärzt­e vor körperlich­en und seelischen Schäden warnen?

Gewiss muss die Politik die Mutationen ernst nehmen. Aber eins dürfen Familien, Lehrer und Unternehme­n im Lockdown erwarten: dass die Politik sich mehr anstrengt. Im Umgang mit der Impfstoff-Krise. Bei der Auszahlung der Unternehme­nshilfen. Bei der Öffnung der Schulen. Wer seinen Bürgern Grundrecht­e wie das auf Bildung und Berufsausü­bung nimmt, muss Perspektiv­en bieten statt nur Verbote. Virologen haben längst ein Konzept vorgelegt, wie man Schulen verantwort­ungsvoll öffnen kann: mit mehr Tests. Konkret: Wenn ein Schüler erkrankt, geht die ganze Klasse für fünf Tage in Quarantäne und wird dann freigetest­et. Deutschlan­d braucht endlich eine echte Teststrate­gie, dazu gehört die Ausstattun­g der Schulen ebenso wie konsequent­es Sequenzier­en von Befunden. Das Virus wird noch lange bleiben. Die Freigabe der Dauerwelle ist da ein ganz schlechter Politik-Ersatz. BERICHT

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