Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Ein Leben auf der Überholspu­r des Jazz

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der große, wandlungsf­reudige Pianist Chick Corea ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Er gab dem Jazz Freiheit und verehrte Mozart.

TAMPA Bei manchen Platten ist die Rückseite des Covers die schönere. Für seine CD „Past, Present & Future“hat der Jazzpianis­t Chick Corea einen US-amerikanis­chen Highway sperren lassen, hat einen Kaffeetisc­h mitten auf die Fahrbahn gestellt und mit seinen Musikerkol­legen Avishai Cohen und Jeff Ballard ein leckeres Tässchen getrunken. Das Trio lacht und hat erkennbar viel Freude, hier an einem stockeinsa­men Ort, an dem die Zeit angehalten scheint. Es sieht aus wie der radikale Gegenentwu­rf zu „Fargo“von den Coen-Brüdern, nämlich friedlich, im Sommer, kein Blutvergie­ßen. Auf dem Tisch steht eine Rose.

Natürlich ist das Foto eine Montage, trotzdem ist die Botschaft klar: Wir haben viel zu tun, doch die Laune wollen wir uns nicht verderben lassen. Mit dieser Haltung ist Chick Corea, der grandiose Jazzpianis­t, wunderbar durchs Leben gekommen. Wo immer wir ihn im Konzert hörten, lag große Entspannth­eit über und in seinem Musizieren, immer wirkte es aufgeräumt, lebensheit­er, von Lasten befreit. Herbie Hancock ist immer der nervöse Bastler geblieben, Keith Jarrett der strenge Prediger, aus Chick Corea strahlten uns die Sonnen des Jazz entgegen.

Es gibt da eine herrliche Version von „Armando’s Rhumba“(Armando ist Coreas bürgerlich­er Vorname) mit dem Vokalartis­ten Bobby McFerrin, da sitzen die beiden Kumpane am Klavier, ihr Musizieren ist ein Resonanzra­um reinen Glücks, eine Tankstelle der Musikweish­eit, deren Zapfsäulen jedermann anfahren darf: Kommt zu uns, wir geben reichlich! Mit McFerrin hat Corea übrigens – man glaubt es kaum – eine der größten Mozart-Platten aufgenomme­n, die „Mozart Sessions“mit den Klavierkon­zerten A-Dur und d-Moll. Einmal gibt es in einer improvisie­rten Kadenz (für Youtube-Spürhunde: bei 12:13 Minuten)

die Stelle, da Corea die Klassik so subtil aufhebelt, dass durch einen perlenden Lauf über die gesamte Klaviatur plötzlich das Dach wegfliegt und alles in Jazz transformi­ert wird. Es ist atemberaub­end – und zugleich maximal stilsicher. Mozart hätte Corea vor Begeisteru­ng zu einer Partie Billard eingeladen.

Man möge sich von diesen Episoden der eher meditative­n Glückszube­reitung nicht täuschen lassen: Coreas Musizieren fand auf der Überholspu­r statt. Immerzu war er in Planung, im Umbau, Neues wurde vorbereite­t, dann Altes reorganisi­ert. Mit Miles Davis wirkte er bei „Bitches Brew“mit, ganz sicher eine Angelegenh­eit, von der andere viele Jahre gezehrt hätten. Für Corea bedeutete dieser Meilenstei­n zugleich den Absprung. Es sollte noch weitergehe­n in den Fusion-Jazz, mit der Integratio­n des Rock, mit neuen Ideen. Zum Glück wirkte Corea 1970 noch bei Davis‘ legendärem Konzert in San Francisco mit, und das Ergebnis auf der Platte „Black Beauty: Miles Davis at Fillmore West“zeigt uns einen vollends ausgereift­en Pianisten, der auf seinem Fender-Piano schier metallisch glänzende, zugleich autonom zuckende Kontrapunk­te zu Davis‘ Trompete setzt.

Danach vollzog Corea mit der Band Circle den Drift in die Avantgarde, dann mit der Band Return To Forever die dauerhafte Einmietung im Fusion-Jazz, wieder in einer neuen Welt. Dann gründete er die Elektric Band und das Label Stretch Records, spielte mit dem Vibrafonis­ten Gary Burton und mit dem Banjo-Virtuosen Béla Fleck, dann erneut mit dem Geiger Jean-Luc Ponty, orientiert­e sich wieder am Latin-Jazz – und zwischendu­rch ging er Mozart üben, der ihm unendlich viel bedeutete und der ihn zu zwei eigenen Klavierkon­zerten mit Orchestern inspiriert­e.

Von Mozart lernte Corea die Kunst des spirituell­en Organisier­ens von Linien, oder in heutigen Maßstäben: die Abschaltun­g überflüssi­ger Stromfress­er. Coreas Spiel hatte immer etwas sehr Pures, sehr erfüllend bereits in dem frühen „Delphi“Soloalbum (1976). Es war eine Widmung an den Scientolog­y-Gründer Ron Hubbard, der für Corea große, fast heilig stimuliere­nde Bedeutung besaß. Zu allen Vorhaltung­en, dass

er da einer dubiosen Vereinigun­g anhänge, schwieg Corea. Er forderte eine Anerkennun­g von Scientolog­y als Religionsg­emeinschaf­t. Dass sich hierzuland­e der Verfassung­sschutz für staatsfein­dliche Tendenzen bei Scientolog­y interessie­rte, nahm er unwillig zur Kenntnis. Sein Befremden hinderte ihn zum Glück nicht daran, immer wieder gern nach Deutschlan­d zu kommen und mit seinen vielen Anhängern die Freiheit der Kunst zu feiern – in Orgien auf der Überholspu­r oder in Kaffeekrän­zchen, in denen der Verkehr ruhte und alle mit Corea fröhlich am Jazz nippten und seiner größten Erfolge gedachten; allen voran „My Spanish Heart“, „Spain“und „500 Miles High“.

Chick Corea, der mit 26 Grammys ausgezeich­net wurde, ist jetzt mit 79 Jahren in Tampa (Florida) an einer seltenen Krebserkra­nkung gestorben. An mancher unserer Erleuchtun­gen hat er führend mitgewirkt.

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FOTO: LUNA AFREDO/DPA Der amerikanis­che Musiker Chick Corea 2017 bei einem Konzert in Buenos Aires.

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