Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Deutschlands Ruf ist ramponiert
Zu wenig Impfstoff, schleppende Auszahlung der Hilfen, überforderte Ämter – im Kampf gegen die Pandemie erlaubt sich die Bundesrepublik unerwartete Schwächen. Private Unternehmen zeigen, wie es besser geht.
Das Drama um Sormas ist bezeichnend. Mit Fördergeldern der Bundesregierung hatte das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ein Computerprogramm entwickelt, um Kontakte von Infizierten digital schneller nachverfolgen zu können. Doch weil einige Funktionen fehlten und niemand das Vorgehen auf Bundesebene koordinierte, kümmerten sich Städte und Landkreise um eigene Lösungen. Bis heute gibt es einen Flickenteppich von Systemen, von der Excel-Tabelle bis zur eigenen Software. Sormas wird erst jetzt – in der schwierigsten Phase des zweiten
Lockdowns – auf Druck von
Bund und Ländern eingeführt. Im Sommer 2020 wäre mehr Zeit gewesen.
Ein klarer Planungsfehler.
Es ist nicht der einzige in dieser Pandemie. Im zweiten Lockdown geht so ziemlich alles daneben, was möglich ist. Erst rafften sich die Ministerpräsidenten nur zu halbherzigen Beschränkungen auf, dann vergaßen sie vor lauter Lockdown, den Aufbau einer Testinfrastruktur oder eine ausreichende Vorbereitung auf die Impfaktion zu organisieren. Als klar wurde, dass der Impfstoff knapp war, geriet das Krisenmanagement vollends ins Schleudern. Während sich Deutschland sonst gerade in solchen Situationen schnell auf veränderte Umstände einstellen kann, etwa in der Finanzkrise oder beim ersten Lockdown, fällt es jetzt im Vergleich zu anderen Ländern zurück.
Noch immer ist nicht restlos geklärt, warum die EU-Kommission mit Biontech erst im November zu einem Abschluss kam und dabei nur eine vergleichsweise geringe Menge von 200 Millionen Impfdosen orderte, obwohl die doppelte Lieferung möglich gewesen wäre. „Vor dem Hintergrund, dass Lockdowns extrem teuer sind, hätte man wohl im Sommer mehr Risikobereitschaft zeigen sollen“, sagt der Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Christoph Schmidt. „Außerdem hätte man bereit sein sollen, höhere Preise zu akzeptieren, wenn dadurch eine höhere Priorisierung der EU-Lieferungen ermöglicht worden wäre.“Hätte, hätte. Bundesregierung und EU-Kommission bemühen sich jetzt hektisch, die Fehler wiedergutzumachen. Doch die Menschen müssen warten; auch die Ausweitung der Produktionskapazitäten wurde sowohl in Brüssel als auch in Berlin schlicht vergessen.
Den Gipfel der Planlosigkeit erreichten die Verantwortlichen, als es nicht einmal gelang, die wegen ihres Alters bevorzugten Gruppen mit Terminen zu versorgen. Die Softwaresysteme brachen vielerorts zusammen, obwohl gerade bei privaten Konzertveranstaltern jede Menge Know-how verfügbar gewesen wäre.
Ein besonderes Trauerspiel boten die meist staatlichen Bildungseinrichtungen. Gelang es wenigstens den Universitäten, einen Teil der Lehre und der Prüfungen unter Corona-Bedingungen zu bewerkstelligen, versagte das Schulsystem flächendeckend. Die mangelnde Digitalisierung der Bildungsstätten, aber auch die Weigerung vieler Lehrkräfte, sich mit Fernunterricht ernsthaft auseinanderzusetzen, ließen die Schulsituation im Lockdown zu einem Debakel werden. Die Pandemie hat die organisatorische Schwäche des deutschen Schulsystems eindrücklich aufgedeckt. Die skandinavischen, ostasiatischen und angelsächsischen Länder schlugen sich weit besser.
Von Anfang an sorgten sich die Bundesregierung und die Länder vor allem darum, dass ausreichend Geld für die Pandemiebekämpfung eingesetzt wird. In Deutschland wurde mit Bazooka und „Wumms“ein gigantisches Konjunkturpaket
von 140 Milliarden Euro aufgelegt. Gleichzeitig gelang es nur, 3,2 Milliarden der 15 Milliarden Euro Novemberhilfen bis Mitte Februar auszuzahlen. Wirtschaftsprofessor Schmidt gibt den Rat, „einfachere Wege zur Stützung der Unternehmen zu wählen“, etwa noch stärker ausgeweitete Verlustrückträge.
Die Deutschen erkennen sich selbst nicht wieder. Ihr Nimbus als Organisationsund Effizienzweltmeister ist teilweise verloren gegangen – zu starr, zu altmodisch, zu behäbig. Als im zweiten Lockdown Alternativen zur Holzhammermethode gefragt waren, herrschte Fehlanzeige. Länder wie Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate, Großbritannien und die USA konnten schneller impfen und verhandeln schon über einen coronafreien Austausch von Waren und Tourismus. Österreich hat eine App entwickelt, in die Bewohner die Ergebnisse von Schnelltests und Selbsttests eingeben und sich freitesten können. Eingeschlossen ist darin ein elektronischer Impfpass, der es dem Inhaber erlaubt, wieder Restaurants, Museen oder Läden zu besuchen.
Doch es bringt wenig, nur zurückzuschauen. Die Industrie macht vor, wie es besser geht. Mit Schnelltests, Hygienekonzepten und Anti-Corona-Maßnahmen ist es den Herstellern gelungen, im Dezember schon wieder fast den Produktionsumfang von 2019 zu erreichen. Auch in Dienstleistungsunternehmen wird viel über Maßnahmen gegen die Pandemie nachgedacht – durch Lüftungssysteme, elektronische Abstandshalter oder Schnelltests.
Selbst in der Verwaltung ist nicht alles schlecht. Anders als Sormas ist die Meldesoftware der Testlabore, die maßgeblich auf die bundeseigene Gesellschaft Gematik zurückgeht, auf der Höhe der Zeit. Die Daten der Tester werden mittlerweile fast in Echtzeit an die Gesundheitsämter und das RKI übermittelt. „Früher waren die Zahlen acht Tage alt und kamen per Fax“, sagt Gematik-Chef Markus Leyck Dieken. Ganz verlernt hat es Deutschland offenbar noch nicht.