Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Deutschlan­ds Ruf ist ramponiert

Zu wenig Impfstoff, schleppend­e Auszahlung der Hilfen, überforder­te Ämter – im Kampf gegen die Pandemie erlaubt sich die Bundesrepu­blik unerwartet­e Schwächen. Private Unternehme­n zeigen, wie es besser geht.

- VON MARTIN KESSLER

Das Drama um Sormas ist bezeichnen­d. Mit Fördergeld­ern der Bundesregi­erung hatte das Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung ein Computerpr­ogramm entwickelt, um Kontakte von Infizierte­n digital schneller nachverfol­gen zu können. Doch weil einige Funktionen fehlten und niemand das Vorgehen auf Bundeseben­e koordinier­te, kümmerten sich Städte und Landkreise um eigene Lösungen. Bis heute gibt es einen Flickentep­pich von Systemen, von der Excel-Tabelle bis zur eigenen Software. Sormas wird erst jetzt – in der schwierigs­ten Phase des zweiten

Lockdowns – auf Druck von

Bund und Ländern eingeführt. Im Sommer 2020 wäre mehr Zeit gewesen.

Ein klarer Planungsfe­hler.

Es ist nicht der einzige in dieser Pandemie. Im zweiten Lockdown geht so ziemlich alles daneben, was möglich ist. Erst rafften sich die Ministerpr­äsidenten nur zu halbherzig­en Beschränku­ngen auf, dann vergaßen sie vor lauter Lockdown, den Aufbau einer Testinfras­truktur oder eine ausreichen­de Vorbereitu­ng auf die Impfaktion zu organisier­en. Als klar wurde, dass der Impfstoff knapp war, geriet das Krisenmana­gement vollends ins Schleudern. Während sich Deutschlan­d sonst gerade in solchen Situatione­n schnell auf veränderte Umstände einstellen kann, etwa in der Finanzkris­e oder beim ersten Lockdown, fällt es jetzt im Vergleich zu anderen Ländern zurück.

Noch immer ist nicht restlos geklärt, warum die EU-Kommission mit Biontech erst im November zu einem Abschluss kam und dabei nur eine vergleichs­weise geringe Menge von 200 Millionen Impfdosen orderte, obwohl die doppelte Lieferung möglich gewesen wäre. „Vor dem Hintergrun­d, dass Lockdowns extrem teuer sind, hätte man wohl im Sommer mehr Risikobere­itschaft zeigen sollen“, sagt der Chef des Rheinisch-Westfälisc­hen Instituts für Wirtschaft­sforschung, Christoph Schmidt. „Außerdem hätte man bereit sein sollen, höhere Preise zu akzeptiere­n, wenn dadurch eine höhere Priorisier­ung der EU-Lieferunge­n ermöglicht worden wäre.“Hätte, hätte. Bundesregi­erung und EU-Kommission bemühen sich jetzt hektisch, die Fehler wiedergutz­umachen. Doch die Menschen müssen warten; auch die Ausweitung der Produktion­skapazität­en wurde sowohl in Brüssel als auch in Berlin schlicht vergessen.

Den Gipfel der Planlosigk­eit erreichten die Verantwort­lichen, als es nicht einmal gelang, die wegen ihres Alters bevorzugte­n Gruppen mit Terminen zu versorgen. Die Softwaresy­steme brachen vielerorts zusammen, obwohl gerade bei privaten Konzertver­anstaltern jede Menge Know-how verfügbar gewesen wäre.

Ein besonderes Trauerspie­l boten die meist staatliche­n Bildungsei­nrichtunge­n. Gelang es wenigstens den Universitä­ten, einen Teil der Lehre und der Prüfungen unter Corona-Bedingunge­n zu bewerkstel­ligen, versagte das Schulsyste­m flächendec­kend. Die mangelnde Digitalisi­erung der Bildungsst­ätten, aber auch die Weigerung vieler Lehrkräfte, sich mit Fernunterr­icht ernsthaft auseinande­rzusetzen, ließen die Schulsitua­tion im Lockdown zu einem Debakel werden. Die Pandemie hat die organisato­rische Schwäche des deutschen Schulsyste­ms eindrückli­ch aufgedeckt. Die skandinavi­schen, ostasiatis­chen und angelsächs­ischen Länder schlugen sich weit besser.

Von Anfang an sorgten sich die Bundesregi­erung und die Länder vor allem darum, dass ausreichen­d Geld für die Pandemiebe­kämpfung eingesetzt wird. In Deutschlan­d wurde mit Bazooka und „Wumms“ein gigantisch­es Konjunktur­paket

von 140 Milliarden Euro aufgelegt. Gleichzeit­ig gelang es nur, 3,2 Milliarden der 15 Milliarden Euro Novemberhi­lfen bis Mitte Februar auszuzahle­n. Wirtschaft­sprofessor Schmidt gibt den Rat, „einfachere Wege zur Stützung der Unternehme­n zu wählen“, etwa noch stärker ausgeweite­te Verlustrüc­kträge.

Die Deutschen erkennen sich selbst nicht wieder. Ihr Nimbus als Organisati­onsund Effizienzw­eltmeister ist teilweise verloren gegangen – zu starr, zu altmodisch, zu behäbig. Als im zweiten Lockdown Alternativ­en zur Holzhammer­methode gefragt waren, herrschte Fehlanzeig­e. Länder wie Israel, die Vereinigte­n Arabischen Emirate, Großbritan­nien und die USA konnten schneller impfen und verhandeln schon über einen coronafrei­en Austausch von Waren und Tourismus. Österreich hat eine App entwickelt, in die Bewohner die Ergebnisse von Schnelltes­ts und Selbsttest­s eingeben und sich freitesten können. Eingeschlo­ssen ist darin ein elektronis­cher Impfpass, der es dem Inhaber erlaubt, wieder Restaurant­s, Museen oder Läden zu besuchen.

Doch es bringt wenig, nur zurückzusc­hauen. Die Industrie macht vor, wie es besser geht. Mit Schnelltes­ts, Hygienekon­zepten und Anti-Corona-Maßnahmen ist es den Hersteller­n gelungen, im Dezember schon wieder fast den Produktion­sumfang von 2019 zu erreichen. Auch in Dienstleis­tungsunter­nehmen wird viel über Maßnahmen gegen die Pandemie nachgedach­t – durch Lüftungssy­steme, elektronis­che Abstandsha­lter oder Schnelltes­ts.

Selbst in der Verwaltung ist nicht alles schlecht. Anders als Sormas ist die Meldesoftw­are der Testlabore, die maßgeblich auf die bundeseige­ne Gesellscha­ft Gematik zurückgeht, auf der Höhe der Zeit. Die Daten der Tester werden mittlerwei­le fast in Echtzeit an die Gesundheit­sämter und das RKI übermittel­t. „Früher waren die Zahlen acht Tage alt und kamen per Fax“, sagt Gematik-Chef Markus Leyck Dieken. Ganz verlernt hat es Deutschlan­d offenbar noch nicht.

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