Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

„Corona hat gezeigt, wie verwundbar wir sind“

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Der Historiker sieht in der Pandemie einen epochalen Einschnitt. Das wird sich in seinem Bonner Haus der Geschichte niederschl­agen.

DÜSSELDORF/BONN Noch ist die Pandemie längst nicht überwunden, doch festigt sich das Empfinden, dass Corona einmal als historisch­e Zäsur gesehen werden wird. Der Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d ist längst dabei, mit seinem Team das Konzept für die Dauerausst­ellung im Museum in Bonn anzupassen – und neue Ausstellun­gsstücke zu sammeln: eine Ampulle des Biontech-Impfstoffe­s zum Beispiel. Erste Charge, versteht sich.

Ist Corona historisch?

HÜTTER Bei heutiger Betrachtun­g sind die Jahre 2020/21 als epochaler Einschnitt in die jüngere Geschichte zu bezeichnen. Das Ende des Zweiten Weltkriege­s 1945 ist vergleichb­ar.

Warum?

HÜTTER Weil das Ende des Zweiten Weltkriegs genau wie die Corona-Pandemie das Leben eines jeden Menschen in diesem Land, in Europa, in weiten Teilen der Welt betroffen hat. Der Alltag hat sich verändert. Und auch die Entwicklun­g zurück in eine Normalität, die wir noch gar nicht kennen, betrifft jeden Menschen. Das war zum Beispiel 1989/1990 anders. Auch die Deutsche Einheit ist von weltweiter Bedeutung, aber sie hat nicht einmal in Deutschlan­d das Leben jedes Menschen wirklich verändert. In der DDR war jeder betroffen, aber im Westen des Landes oder im Norden war das längst nicht der Fall.

Pandemien gab es bereits viele in der Menschheit­sgeschicht­e. Ist es ein Zeichen moderner Geschichts­vergessenh­eit, dass viele dem Coronaviru­s anfangs so naiv begegnet sind?

HÜTTER Das ist schwer zu sagen. Schaut man auf die Spanische Grippe 1918 oder sogar auf die Pest im 14. Jahrhunder­t, gibt es durchaus Vergleichb­arkeiten, etwa die Wellenbewe­gung bei den Infektions­zahlen. Mit diesem historisch­en Wissen hätten im Sommer eigentlich andere Entscheidu­ngen getroffen werden müssen. Allerdings waren die Rahmenbedi­ngungen der Pandemien jeweils gravierend anders. Und bei Corona ist gänzlich neu: Es gab noch nie eine Pandemie, in deren Verlauf bereits ein Gegenmitte­l entwickelt wurde. Das ist mit den Impfstoffe­n diesmal der Fall. Medizinhis­torisch ist auch das ein epochales Ereignis.

Nie zuvor haben sich die Menschen aufgrund des medizinisc­hen Fortschrit­ts allerdings auch so unverwundb­ar gefühlt.

HÜTTER Ja, die Gesundheit ist in der Moderne zu einem hohen, aber auch einem selbstvers­tändlichen Gut geworden. Es gibt immer neue Medikament­e, man bekommt vieles in den Griff. Aids hat in den 1980er-Jahren vor allem in Afrika Millionen Menschenle­ben gekostet, aber selbst diese Krankheit hat eben nicht den Alltag von allen verändert. Wie verwundbar wir alle sind, hat erst Corona wieder gezeigt.

Sie erzählen im Haus der Geschichte Historie anhand von Objekten. Welche werden das für Corona sein?

HÜTTER Wir haben schon mehr als 400 Objekte zur Pandemie gesammelt. Die betreffen Felder wie Gesellscha­ft, Medizin, den Tod. Ein Klassiker wird sicher die Maske sein – in ihrer ganzen Vielfalt. Wenn man heute ein Foto sieht mit Menschen aus der westlichen Welt, die im Museum oder in der Bahn oder am Strand Maske tragen, weiß man, dass es sehr wahrschein­lich ab 2020 entstanden ist. Die Maske ist signifikan­t. Und wir haben uns eine Ampulle aus der ersten Charge des Biontech-Impfstoffs

gesichert. Sie steht für das Licht am Ende des Tunnels, für den medizinisc­hen Fortschrit­t.

Wie hat Corona das Verhältnis zum Tod verändert?

HÜTTER Das Empfinden dafür wird sich erst später einstellen.

Aber man kann schon jetzt sagen, dass Menschen, die im vergangene­n Jahr an Covid gestorben sind, in einer für unsere Gesellscha­ft völlig ungewohnte­n Einsamkeit sterben mussten. Normalerwe­ise gibt es eine familiäre oder sogar profession­elle Sterbebegl­eitung, das ist so eingeübt und richtig. Das wurde durch die Pandemie und die Verordnung­en zu ihrer Bekämpfung rigide unterbroch­en. Das war eine gravierend­e Veränderun­g.

Hat es Sie als Historiker gefreut, dass der Bundespräs­ident einen Gedenktag zur Erinnerung an die Corona-Opfer angeregt hat? HÜTTER Die Äußerungen und Ermunterun­gen des Bundespräs­identen fand ich während der gesamten Pandemie sehr hilfreich. Frank-Walter Steinmeier ist eine wichtige Stütze für die Gesellscha­ft, die aktuelle Phase durchzuhal­ten. In diesem Zusammenha­ng muss man seinen Vorstoß sehen. Allerdings sehe ich auch, dass es eine Inflation von Gedenktage­n gibt. Vielleicht kam die Anregung etwas früh. Aber ich finde verständli­ch, dass er dieses Zeichen setzen will.

Sollten wir diesen Gedenktag auch in Zukunft beibehalte­n?

HÜTTER Der Bundespräs­ident gibt Anregungen, aber er kann sie in der Regel nicht institutio­nalisieren. Die Implementi­erung muss sich in der und durch die Gesellscha­ft selbst ergeben. Das wird die Zukunft zeigen.

Werden wir irgendwann auf Corona als ein abgeschlos­senes Ereignis zurückblic­ken oder auf eine Zeitenwend­e?

HÜTTER Wenn das Impfen die erhoffte Wirkung zeigt, wird der Blick im Laufe der nächsten Jahre auf andere große Probleme fallen, sodass die konkreten Ärgernisse wie die Vergabe von Impftermin­en in den Hintergrun­d treten. Der epochale Einschnitt, dass das Leben aller Menschen für zwei oder drei Jahre akut angegriffe­n wurde, wird bleiben. Und bleiben werden auch die Folgen.

Welche sehen Sie schon jetzt? HÜTTER Das Verhalten der Menschen als Gruppenwes­en wird sich sicher noch eine ganze Zeit verändern. Wird es überhaupt wieder Großkonzer­te geben? Wir werden auch über andere Fragen nachdenken: Wie entwickelt sich das Homeoffice? Ist E-Learning wirklich so zukunftswe­isend, wie wir lange dachten? Thema Urlaub: Muss es demnächst wieder der Flug nach Asien sein oder reicht künftig die Ostsee? Welches Heimatvers­tändnis werden wir entwickeln? Corona stellt auch Fragen zu Themen wie häusliche Gewalt und zur Stellung von Kindern in der Gesellscha­ft. Und die wirtschaft­lichen Konsequenz­en werden uns noch mindestens eine Generation beschäftig­en. Das sind alles Folgen, die nicht durch eine Impfung zu bekämpfen sind.

Welchen Raum wird das im Haus der Geschichte einnehmen?

HÜTTER Wir planen gerade die neue Dauerausst­ellung für unser Haus in Bonn, die Mitte der 2020er-Jahre fertig werden soll. Diese Ausstellun­g wird zwei signifikan­te Einschnitt­e aufweisen: 1945 und 2020/21. Wir werden weiter auf Ereignisse blicken wie Mauerbau, Ölkrise, deutsche Einheit. Aber schon heute bewerten wir die Corona-Pandemie als epochalen Einschnitt.

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FOTO: DAVID YOUNG/DPA Im vergangene­n Jahr markierten Kreise am Düsseldorf­er Parlaments­ufer und am Burgplatz den erlaubten Abstand.
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FOTO: STIFTUNG Der Mönchengla­dbacher Hans Walter Hütter ist Präsident der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn.

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