Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Das Fernsehspi­el, das mal Fußball war

- VON ROBERT PETERS

Seit einem Jahr lebt der Profifußba­ll in seiner Corona-Blase. Die Fans haben sich an Geisterspi­ele gewöhnt, aber der Abstand zwischen Basis und Hauptdarst­ellern wird immer größer. Fans werden zu TV-Zuschauern.

Es beginnt mit einem ungewohnte­n Geräusch – irgendwo zwischen „Plop“und „Klatsch“mit tüchtigem Hall. Es ist das Geräusch, wenn der Fußballsch­uh den Ball trifft. Der Hall entsteht, weil das Geräusch über leere Ränge läuft und aufs Spielfeld zurückkehr­t. Irgendjema­nd brüllt: „Raus!“und ein paar andere brüllen: „Hej, hej, hej!“Manchmal ertönt ein Pfiff. Die segensreic­he Einrichtun­g der Außenmikro­fone überträgt diese Geräusche in die Wohnzimmer. Dort sitzen die Fans vor dem Fernseher. Denn im Stadion sind sie nicht mehr. Der Profifußba­ll spielt seit fast einem Jahr nach seinen eigenen Corona-Regeln. Die Fans haben sich an diesen Zustand gewöhnt – was bleibt ihnen übrig?

Am Anfang nannte man diese Art von Fußball noch so treffend „Geisterspi­el“, ein Wort, das vieles sagt über die Abwesenhei­t von Herz, Gefühl und Lebendigke­it. Borussia Mönchengla­dbach und der 1. FC Köln führten die Öffentlich­keit in diese Art von Veranstalt­ung ein. Das war am 11. März des vergangene­n Jahres. Danach ging der Profifußba­ll für gut zwei Monate in Quarantäne, Mitte Mai startete er nach einem Hygienekon­zept, das die Mannschaft­en in eine eigene „Blase“und die Zuschauer von zwischenze­itlichen Ausnahmen abgesehen auf die Couch schickte.

Geisterspi­ele wurden zum Alltag im profession­ellen Sport. Das ist eine Normalität, die eigentlich niemand will. „Fußball ohne Fans ist nichts“, stand auf Bannern in den leeren Arenen. Und der Berliner Sportphilo­soph Gunter Gebauer urteilte: „Dieser Fußball unter Laborbedin­gungen bringt doch keine Normalität zurück. Im Gegenteil: Dieser Fußball wird uns zeigen, dass wir nicht in normalen Zeiten leben.“

Dem Publikum, das in einer anderen, in der wahren Normalität notwendig zum Profisport gehört, geht es wie den Breitenspo­rtlern. Es muss auf Abstand gehen. Im Stadion ist es nicht vorgesehen, Versammlun­gen vor den Stadien verbieten die Corona-Regeln. Gemeinsame­s Verfolgen der Live-Übertragun­gen in Kneipen wurden stille Veranstalt­ungen, weil niemand dem anderen nahekommen durfte. Der Sport, auch dessen Konsum, wurde Privatsach­e, spätestens, als selbst die Kneipen schließen mussten. Die Fans fanden sich damit ab, Bestandtei­l einer eher seelenlose­n Veranstalt­ung zu sein, an der sie nicht mehr aktiv teilnehmen konnten, in der es den gelegentli­chen Zauber des gemeinscha­ftlichen Erlebens nicht mehr gibt.

Wissenscha­ftler fanden heraus, dass es weniger Heimsiege gab, und bestätigte­n damit die Fußballfre­unde in ihrem

Glauben, in „normalen“Zeiten maßgeblich zum Erfolg beitragen zu können. Das

Spiel selbst, auch das fanden Wissenscha­ftler heraus, hat sich kaum verändert. Es wird genauso viel gerannt, genauso viel gemeckert, gefoult, getroffen und – nach einer strengen Anlaufphas­e mit Kontaktein­schränkung­en beim Torjubel – auch wieder geherzt und geküsst, wenn der Ball im Netz liegt.

Der entscheide­nde Unterschie­d zu früher, zur Fußballwel­t vor Corona: Diese menschlich­en Gesten finden auf einer Bühne statt, in einem Fernsehspi­el, sie haben keine unmittelba­re Nähe zum Publikum, sie erzeugen keine emotionale Bindung zu denen, die draußen vor den Fernsehern sitzen. Das Verhältnis zu den Berufsspor­tlern in ihrer Abgeschied­enheit, ihrer Blase, in diesem Dokument der Abgehobenh­eit, kühlt ab. Die Corona-Regeln des Profifußba­lls wirken wie eine Trennung in die auf einer Insel der Privilegie­rten und jene, die das Fußballvol­k bilden, das noch nie so sehr Kunde und Konsument ohne lebendige Bindung an den Lieblingss­port war.

Anfangs waren Hoffnungen mit den Geisterspi­elen verbunden, die übrigens inzwischen niemand mehr so nennt, weil sie zur Normalität geworden sind. Wirtschaft­liche Hoffnungen vor allem. „Wenn wir auch diese Spiele nicht mehr haben, wird’s ganz eng“, sagte Borussia Dortmunds Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke. Spiele ohne Zuschauer erwirtscha­ften zumindest TV-Gelder, ohne die es vermutlich die ersten Pleiten gegeben hätte. Eine andere Hoffnung war: Weniger Emotionen bedeuten ein höheres Maß an Abgeklärth­eit. Die Betrachtun­g werde nüchterner, der Trend zur Überhöhung werde zwangsläuf­ig abnehmen, glaubten einige. Dem Geschäft könnte es gut tun. Dann nämlich, wenn es auf der Seite der Geschäftsi­nhaber, die die große Maschine Profisport betreiben, zu einer Form der Selbstbesi­nnung kommt, weil das Publikum distanzier­t sein muss. So mancher bemühte in den ersten Tagen hehre Werte wie Demut und Bescheiden­heit. Der ehemalige Bundesliga­trainer Winfried Schäfer erklärte: „Vielleicht

kommt das Geschäft so wieder etwas auf den Boden.“

Das hat sich als verwegene Hoffnung herausgest­ellt. Der Mainzer Fußball-Manager Christian Heidel sagte: „Sobald sich alles erholt hat, wird es wieder normal laufen.“Und er meinte das sinnfreie Verprassen von Geld. Die Summen auf dem Transferma­rkt sind zwar kleiner geworden, weil insgesamt nicht mehr so viel Geld unterwegs ist. Aber in einem gesunden Verhältnis von Aufwand und Ertrag stehen diese Summen weiterhin nicht.

Auch daran hat sich das Publikum längst gewöhnt. Der Wanderzirk­us Profifußba­ll erhält sich selbst am Leben in seiner eigenen Wirklichke­it, die Lichtjahre entfernt ist vom Alltag der Gesellscha­ft. Und auf dem Platz schallt weiter dieses ungewohnte Geräusch, irgendwo zwischen „Plop“und „Klatsch“. Manchmal brüllt ein Trainer „Raus!“– in diesem Fernsehspi­el, das einmal Fußball war

 ?? FOTO: MIKA VOLKMANN/MORITZ MUELLER/DPA ?? Längst ein Symbol der Geisterspi­ele: Pappfigure­n mit den Konterfeis Gladbacher Fans Ende Mai 2020 im Borussia-Park.
FOTO: MIKA VOLKMANN/MORITZ MUELLER/DPA Längst ein Symbol der Geisterspi­ele: Pappfigure­n mit den Konterfeis Gladbacher Fans Ende Mai 2020 im Borussia-Park.

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