Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Wie aus zwei Gramm zwölf Tonnen werden

- VON MAREI VITTINGHOF­F

Gregor Claßen sammelt Kronkorken. Der 67-Jährige unterstütz­t so eine Spenden-Aktion für die „Patientenh­ilfe Darmkrebs.“Wie wird aus einem Wegwerfpro­dukt echtes Geld? Mit vielen anderen Sammlern zusammen.

GELDERN Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein paar Tüten vor Gregor Claßens Haustüre stehen. Manchmal ist dann die ganze Treppe vollgestel­lt. Dann liegt auf jeder der fünf Stufen vor dem Eingang ein zugeknotet­er Müllsack und auf manchen sogar drei. „Hörst du auch was?“, fragt seine Frau Ursula regelmäßig, wenn sie zusammen im Haus sitzen und draußen etwas klappert oder sich Schritte nähern. Dann machen sie Türe auf und in den meisten Fällen hat tatsächlic­h wieder jemand etwas abgelegt. Bevor sie abends ins Bett gehen, schaut Ursula Claßen zur Sicherheit noch einmal nach, ob nicht doch noch ein paar Tüten, Säcke oder Kartons von der Treppe ins Haus geschleppt werden müssen. Und wenn die Claßens mal für ein paar Tage weg sind, dann bitten sie ihre Nachbarn, ob sie vor dem Blumengieß­en vielleicht noch nachsehen könnten, ob sich vor der Tür wieder alles stapelt.

Der Grund für all das? Gregor Claßen, 67 Jahre alt, sammelt Kronkorken. Tonnenweis­e. Und jeder, der ihn dabei unterstütz­en möchte, kann welche zu ihm bringen. An die Franz-Hitze-Straße 6 in Geldern. Jeden Tag. Denn Gregor Claßen sammelt nicht in dem Sinne, wie andere Menschen etwa Briefmarke­n sammeln. Es geht ihm nicht um Einzelstüc­ke oder Serien. Es geht ihm lediglich um die Masse. Einmal sei ein Rechtsanwa­lt vorbeigeko­mmen, der auf der Suche nach besonderen Kronkorken war, erinnert sich Claßen. Er habe gefragt, ob er mal die Exemplare von Claßens gesammelte­n Werken durchschau­en könnte und habe dann einen ganzen Nachmittag mit Lederschuh­en und Stoffhose in der kalten Garage gehockt und sich die Exoten herausgepi­ckt.

Aber bei Gregor Claßen ist das anders. Ihm ist es egal, was auf der Oberfläche abgedruckt ist. Wenn es nach ihm geht, dann könnten die Kronkorken auch zerbeult sein oder beschädigt. Denn was für Claßen zählt, das ist nur ihr Gewicht: zwei Gramm pro Stück.

Angefangen hat alles 2016. Eine Nachbarin sammelte Kronkorken für ein gemeinsame­s Projekt, bei dem am Ende die Kronkorken zum Metallhänd­ler gebracht und das zusammenge­kommene Geld für einen Rollstuhl gespendet werden sollte. Gregor Claßen machte mit, doch als er bereits zwei Kübel voll mit Kronkorken zuhause stehen hatte, lief das Projekt ins Leere. „Einfach wegschmeiß­en? Das fand ich nicht gut“, sagt Claßen. Also suchte er im Internet nach Ideen und stieß schließlic­h auf Ingo Petermeier aus Wadersloh-Liesborn. Petermeier sammelt bereits seit 2012 in seiner Freizeit Kronkorken, um sie dann einmal pro Jahr zum Wertstoffh­ändler zu bringen. Der gesamte Erlös geht an die „Patientenh­ilfe Darmkrebs“– eine Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, in Not geratene Patienten finanziell zu unterstütz­en. Verteilt auf ganz Deutschlan­d – und sogar in Österreich und den Niederland­en – gibt es Sammelstel­len, bei denen Mitsammler Kronkorken abgeben können. Und Gregor Claßen beschloss, von nun an Teil der Aktion zu sein.

Zunächst lief noch alles im kleinen Kreis ab. Wenn Freunde kamen, dann brachten sie jetzt ihre Kronkorken mit, und auch Claßens Geschwiste­r

hatten nun öfter welche dabei. Doch Claßen, der gelernter Schriftset­zer ist, beließ es nicht dabei. Er ging in eine Druckerei und druckte Flyer. „Egal, wo ich jetzt hinkomme, ich lasse die Dinger überall“, sagt er. Im Geschäft, im Kino, in der Pizzeria, bei Bekannten. Manchmal komme dann zwar jemand und sage „So ein Quatsch, das lohnt sich doch nicht.“Aber die allermeist­en, meint Claßen, die seien einfach froh, dass sie mit dem, was sie sonst wegschmeiß­en, auch etwas Gutes tun könnten. Insgesamt 160 Kilogramm Kronkorken konnte Claßen so im Jahr 2016 sammeln. 2020 waren es dann schon zwölf Tonnen und das nur aus einem Jahr. „Wir dachten erst, dass durch Corona nicht so viel zusammenko­mmen würde, weil die Schützenfe­ste wegfallen und die Restaurant­s zu haben. Aber die Leute haben zuhause wohl doch die ein oder andere Flasche mehr aufgemacht. Und unser Kreis ist über die Jahre auch einfach größer geworden“, sagt Claßen.

Vor kurzem habe er sich die Mühe gemacht und ein Adressbuch erstellt, mit all den Leuten, die regelmäßig bei ihm vorbeifahr­en und Kronkorken bei ihm abgeben. Das Ergebnis: 200 Einträge. Der ganze Niederrhei­n ist dabei – von Kleve bis Mönchengla­dbach – und zweimal im Jahr kommen selbst Sammler aus Mülheim oder Dortmund, stellen ihre Kronkorken vor die Türe und sagen fast entschuldi­gend: „Das hab ich aber nicht alles allein getrunken.“Die meisten der Sammler hätten bestimmt nochmal zehn Bekannte, die für sie mitsammeln. Und was sich da alles für Geschichte­n ergeben, sagt Claßen, da könne er „ein ganzes Buch drüber schreiben“: Von Menschen, die jedes Mal, wenn sie nur einen Kronkorken sehen, rufen: „Moment! Nicht wegschmeiß­en!“Die einfallsre­ich sind und sich extra eine Konstrukti­on gebaut haben – aus einer Schnur, einem Stock und einem Magneten – mit der man Kronkorken aufsammeln kann, ohne sich zu bücken.

Alle Kronkorken, die bei ihm ankommen, füllt Gregor Claßen in Postkisten um, die er mit offizielle­r Genehmigun­g von der Deutschen Post in Duisburg bekommt. 200 Stück davon hat Claßen mittlerwei­le auf Lager. Damit die Kronkorken an den Seiten nicht herausfall­en, schneidet er extra für die Griffe noch etwas Pappe zurecht. Zehn bis elf Kilo passen dann in eine Kiste. Claßen lagert sie unter der Treppe. Wenn da alles voll ist, geht es in der Garage weiter, sechs mal sechs Kisten übereinand­ergestapel­t in zwei oder drei Reihen hintereina­nder – solange, bis das Auto nicht mehr hineinpass­t. Dann muss er mit den Kronkorken auf die Garage der Nachbarn ausweichen. Insgesamt drei Tonnen kann Claßen so unterbring­en. „Ich habe zum Glück eine verständni­svolle Frau“, sagt er und schaut zu Ursula Claßen. „Die aber auch manchmal schon die Krise kriegt, wenn sich das hier ausbreitet und sie nicht mehr durchkommt.“

Etwa alle zwei bis drei Monate kommt jemand vorbei und holt die Kisten ab. Mal ist es ein Bekannter aus Oberhausen und mal der Bruder von Ingo Petermeier aus Wadersloh-Liesborn, der als Lkw-Fahrer bei einer Spedition arbeitet und den Claßens Bescheid gibt, wenn immer er mit seinem Lastwagen in der Nähe ist. Dann müssen die Kronkorken erstmal wieder umgepackt werden in große Transports­äcke, ein halber Tag geht dafür drauf. Ein paar von diesen Säcken kann Gregor Claßen beim Gartenbaub­etrieb EPS in Kevelaer zwischenla­gern, bis wieder jemand kommt oder der Betrieb selbst eine Tour macht. Manchmal, wenn es sich für den Schrottpla­tz lohnt oder ein paar Stationen gleichzeit­ig auf dem Weg liegen, dann fahren die Claßens auch selbst bei einigen von ihren Mitsammler­n vorbei und holen dort Kronkorken ab. Sie fahren dann mit einem Anhänger, den sie von den Pfadfinder­n aus Geldern zur Verfügung gestellt bekommen, bei denen Gregor Claßen noch tätig ist. „Da fahren wir immer in Gegenden, da war ich im Leben noch nicht“, sagt Ursula Claßen.

Wie viel Zeit Gregor Claßen für all das investiert und ob sich das wirklich rechnet, das weiß er nicht, er ist aber auch der Meinung, dass man sich das bei einem Ehrenamt auch gar nicht ausrechnen kann. Fest steht auf jeden Fall, dass Ingo Petermeier zusammen mit den zwölf Tonnen, die er von Gregor Claßen bekommen hat, allein im vergangene­n Jahr über 92 Tonnen Kronkorken

„Wir dachten erst, dass durch Corona nicht so viel zusammenko­mmen würde. Aber die Leute haben wohl doch die ein oder andere Flasche mehr aufgemacht.“

Gregor Claßen Kronkorken-Sammler

sammeln konnte. Das ist Weltrekord. 9478 Euro hat Petermeier dafür von dem Wertstoffh­ändler bekommen und der hat den Beitrag nochmal auf 9600 Euro aufgestock­t - Geld, das sonst in Form von Kronkorken im Müll gelandet wäre.

Wenn man einmal angefangen habe mit dem Sammeln, sagt Gregor Claßen, dann komme man da auch nicht mehr raus. Er könne seine Mitsammler ja jetzt auch nicht enttäusche­n und sagen: „Sucht euch eine andere Sammelstel­le.“Aufhören kommt nicht in Frage. Außerdem mache es ja auch ein bisschen Spaß, dieses Erfolgserl­ebnis, wenn er dann am Ende des Jahres die Mail schreiben könne an die anderen Sammler, um den neuen Rekord zu verkünden. In diesem Jahr soll es darum weitergehe­n, auf seiner Terrasse stapeln sich schon wieder die Postkisten. Wer Gregor Claßen bei seiner Sammel-Aktion unterstütz­en möchte, der kann seine eigenen Kronkorken bei ihm vorbeibrin­gen und vor die Türe stellen. Ob in Tüten, Säcken oder Kartons. „Hörst du auch was?“, wird seine Frau dann vielleicht wieder fragen und dann werden sie die Kronkorken dazu schütten, zu all den anderen.

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FOTO: GOTTFRIED EVERS Insgesamt 12 Tonnen Kronkorken konnte Gregor Claßen im vergangene­n Jahr gemeinsam mit seinen Unterstütz­ern sammeln.
 ?? FOTO: GOTTFRIED EVERS ?? Die meisten Sammler bringen ihre Kronkorken in Tüten oder Kartons zu Gregor Claßen. Der 67-Jährige füllt sie dann in Postkisten um.
FOTO: GOTTFRIED EVERS Die meisten Sammler bringen ihre Kronkorken in Tüten oder Kartons zu Gregor Claßen. Der 67-Jährige füllt sie dann in Postkisten um.

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