Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Unser Dorf soll Kiez werden

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI www.kurasch-uedem.de

Können Menschen mit Ideen, die sie aus Berlin mitgebrach­t haben, in der Provinz einen Heimatvere­in betreiben? Das wollen die Gründer von „Kurasch“in Uedem herausfind­en.

Du hast in der großen Stadt gelebt. Du hast die vielen Lichter gesehen. Jetzt möchtest du heim. All der Krach und Schmutz und Staub. Aber die Lichter würdest du gerne mitnehmen. Nicht alle, aber wenigstens ein paar. Ein paar Lichter für dein Dorf.

In Uedem ist es schon dunkel, als sich am letzten Samstag im Januar 2021 Menschen in die Küche, ins Wohnzimmer oder Esszimmer setzen und eine Kamera einschalte­n. Sie sind nicht die einzigen, die an der Online-Versammlun­g teilnehmen. Freunde, die mittlerwei­le in Berlin, Aachen, Köln und Krefeld wohnen, loggen sich ebenfalls um 18 Uhr ein. Fast 20 Leute, es wird hell auf den Bildschirm­en. Sie sind überwiegen­d um 30, einige tragen Mützen und Bärte. Einer hat im Hintergrun­d sein Rad geparkt. Zweimal haben sich die Mitglieder des Vereins „Kurasch“in einer Gaststätte getroffen. Nun zwingt Corona sie zur digitalen Zusammenku­nft. Philipp, der mit Theresa beim Abendessen sitzt, spricht ein paar Worte zur Begrüßung. Dann sind Uschi und Thorsten dran. Das Ehepaar hat etwas, das sie für das erste große Projekt brauchen: den Gemeinscha­ftsgarten.

Seit dem 2. September 2020 wird „Kurasch“unter der Handelsreg­ister-Nummer VR 2095 beim Amtsgerich­t Kleve als eingetrage­ner Verein geführt. „Projekte ins Leben zu rufen, von denen alle profitiere­n“, steht auf der Webseite des Vereins. Schon der Slogan deutet an, dass hier etwas anders laufen soll: „Einen Weg durch die Stadt malen“. Theresa Laukens, 28, Philipp Laukens-Richter, 32, und Gerrit Jansen, 28, haben den Plan, in Uedem, in dem Ort, in dem sie aufgewachs­en sind, einen Heimatvere­in zu etablieren mit Ideen, die sie aus ihrer Zeit in Berlin mitgebrach­t haben. Ein Kiezverein auf dem Dorf. Doch wie offen ist die Provinz für alternativ­e Ideen?

Wer bei der Geburtsstu­nde von „Kurasch“dabei war, ist nicht ganz sicher. Philipp und Gerrit auf jeden Fall. Vielleicht auch Philipps heutige Frau Theresa. Jedenfalls saßen sie im September 2017 kurz vor der Bundestags­wahl in einer Berliner Kneipe, die von einem linken Kollektiv betrieben wurde. Klar war, dass sie wählen gehen würden und zwar das kleinere Übel. Aber das konnte nicht alles sein, bloß alle vier Jahre einen Tag politisch sein. Also blieb nur, sich selbst zu engagieren, aber nicht im Namen einer Partei einspannen lassen, auch wenn sie linken und grünen Ideen nahe standen. Sie wollten auf kurzem Weg etwas bewirken, in der Nachbarsch­aft. Wie ließe sich das besser anstellen als in einem Verein? Am besten noch in einem Verein, den man selbst gründet, weil das die Wertschätz­ung erhöht. Normalerwe­ise sind solche Ideen schon am nächsten Tag vergessen, wenn die Mischung aus Alkohol und Euphorie abgeklunge­n ist. Diesmal nicht. Schon vorher hatten Philipp und Theresa in einem Notizbuch Ideen gesammelt für den Fall, dass sie wieder aufs Land zurückzieh­en. Für Theresa stand fest, dass sie nicht wieder alles aufgeben wollte, was in Berlin möglich war.

Sie hatte von ihnen am längsten in Berlin gewohnt. 2012 war sie fürs Studium, Germanisti­k und Katholisch­e Religion, dorthin gezogen, um Lehrerin zu werden. Möglichst weit weg, um nicht doch jedes Wochenende nach Hause zu fahren. Zunächst dachte sie, es wäre ihr auch egal gewesen, wenn sie in Afrika studiert hätte. Doch als sie Weihnachte­n zum ersten Mal wieder nach Hause fuhr und von der A57 die weite niederrhei­nische Landschaft sah, stellte sie zu ihrer Verwunderu­ng fest, dass das so egal nicht war. Sie hatte eine gute Kindheit gehabt. Hatte Zäune von Baggerseen überwunden, war mit dem Rad zu Partys nach Goch gefahren und betrunken wieder zurück.

Philipp war 2017 nach Berlin gezogen, ihretwegen, nachdem er eine Ausbildung zum Erzieher gemacht hatte. Er wusste, dass sie nur eine begrenzte Zeit bleiben würden. Theresa hatte nach sieben Jahren die Schnauze voll von Berlin. Es gab keine frische Luft, wenn sie frische Luft haben wollte. Immer diese Leute, die mit lauter Musik ihren Raum absteckten. Philipp störten die 28.000 Möglichkei­ten, die Angst, Dinge zu verpassen. „Das hatte so eine Dynamik, alle waren auf dem Sprung“, sagt er. Die beiden wollten ein Haus mit Garten. Das war nur auf dem Land zu bezahlen, und dann zogen sie gleich dorthin, wo sie noch Leute kannten. Als sie in Uedem die erste Fahrradtou­r machten, sahen sie eine halbe Stunde sonst niemanden, sagt Theresa. 2020 heirateten sie. Er fing in einem Kindergart­en in Uedem an, sie wurde Lehrerin an der Gesamtschu­le Goch.

Für Gerrit war Berlin schon immer Sehnsuchts­ort gewesen, durch Songs, Filme, Kurzreisen. Nach einigen Monaten in Neuseeland kam ihm Uedem ein wenig klein vor. In Berlin war er zweieinhal­b Jahre glücklich, neue Leute mit alternativ­en Lebensentw­ürfen, ein Überangebo­t an Kultur. Dann zog er fürs Studium, eine Mischung aus Politik, Wirtschaft und Philosophi­e, nach Düsseldorf. Uedem war nur noch eine etwas mehr als einstündig­e Zugfahrt und ein paar Kilometer mit dem Rad entfernt. Nah genug, um weiter über den Verein nachzudenk­en. Selbst etwas auf die Beine stellen.

Auf der Suche nach einem Vereinsnam­en

googelten sie niederrhei­nische Begriffe und stießen auf Kurasch, vom französisc­hen Wort für Mut. Zum Vereinslog­o machten sie ein schwarzes Schaf, eine Anspielung auf den Kabarettis­ten Hanns Dieter Hüsch, der sich selbst das „schwarze Schaf vom Niederrhei­n“genannt hatte. Dass sie damit auch ein Anderssein markierten, war ein positiver Nebeneffek­t. Dieses Anderssein zeigt sich auch in ihrer Satzung, in die sie schrieben: „Zweck des Vereins ist die Förderung internatio­naler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkervers­tändigungs­gedankens.“Außerdem lehne der Verein „Rassismus, Sexismus, Homophobie und weitere menschenfe­indliche Ideologien ab.“

Uschi berichtet von den 600 Quadratmet­ern Garten, die sie und ihr Mann dem Verein kostenlos überlassen möchten. Darin stehen ein Haselnusss­trauch, ein Birnbaum, ein Pflaumenba­um, ein Kirschbaum. Andre sagt, das Tor könnten sie durch ein Zahlenschl­oss sichern. Philipp sagt, er würde gerne morgen schon mal den Garten sehen. Andre beißt in ein Brötchen. Arndt schlägt vor, dass jemand Fotos macht und sie in die Whatsapp-Gruppe lädt. Es gehe aber nicht um den Garten hinter der evangelisc­hen Kirche, oder? Nein, geht es nicht. Zu dem hat Gerrit etwas zu sagen. Das Okay der Kirche hätten sie, einige wollten sogar mit anpacken. Andre fragt, ob zwei Gartenproj­ekte auf einmal nicht zu viel seien. Gerrit sagt: „Das halten wir uns einfach offen.“18.34 Uhr. Arndt möchte über das Thema Konzerte sprechen.

Zur ersten Mitglieder­versammlun­g im September 2020 kamen 14 Personen in die Gaststätte Lettmann. Auf Karten schrieben sie Oberbegrif­fe wie Ökogedöns und

Gemeindele­ben, darunter standen Ideen wie Blühstreif­en, öffentlich­e Spieleaben­de, alternativ­er Vatertag und Reparaturc­afé. Im selben Monat stellten sie einen Bücherschr­ank vor der evangelisc­hen Kirche am Markplatz auf. Die Gemeindeve­rwaltung hatte ihnen untersagt, den Schrank ins Häuschen auf dem Markt zu stellen. Deshalb fragte Philipp die evangelisc­he Kirche. Er sagt, es waren einige Mails an die Verwaltung nötig. Auf ihn machte das den Eindruck von „Noch eine Sache mehr, um die wir uns kümmern müssen“. Den Schrank bekamen sie kostenlos über Ebay-Kleinanzei­gen. Sie strichen ihn blau wie den Himmel. Ein kleines Projekt, das gleich mehrere Dinge erreicht: animiert zum Lesen, spart Rohstoffe und Geld, ist für alle Altersgrup­pen interessan­t. Am Schrank hängt ein Zettel: „Diese Bücherkist­e ist ein kleiner Beitrag zu einem antikapita­listischen Kreislaufs­ystem. Nehmt euch, was ihr braucht. Geht respektvol­l mit den Dingen um.“

Im Oktober ließ der Verein zwei Bands in der evangelisc­hen Kirche spielen und die Konzerte im Internet übertragen. Im November polierten die Mitglieder alle 48 Stolperste­ine in Uedem. Die Idee hatten sie schon länger, dann beschloss die AfD, ihren Parteitag in Kalkar abzuhalten. Anstatt mit Protestpla­katen zur Demo zu gehen, reinigten sie am selben Tag die Stolperste­ine mit Schwamm und Essigessen­z. Am 23. Dezember stellten sie eine auf Youtube übertragen­e Weihnachts­show auf die Beine aus einem Tonstudio in Haldern.

Als nächstes wollen sie einen Gemeinscha­ftsgarten anlegen. Und dann? Sie würden gerne den Park besser nutzen, ein Open-Air-Kino veranstalt­en, auch für alle Einwohner verfügbare Lastenfahr­räder halten sie für möglich. Warum findet der Markt immer donnerstag­vormittags, wenn die meisten arbeiten, und nicht samstags statt? Theresa kann sich auch eine im Kollektiv organisier­te Vereinskne­ipe vorstellen. Außerdem möchte sie die Idee aus einer Doku aufgreifen und im Garten des Altenheims Hühner ansiedeln, um die sich die Bewohner kümmern könnten.

Wie viele Pläne sie umsetzen, wird auch davon abhängen, wie groß der Verein noch wird. Momentan sind es 18 Mitglieder. Genau genommen ist „Kurasch“gerade eher ein Freundeskr­eis, der sich als Verein organisier­t. Nicht nur, weil Gerrit und Theresa schon in dieselbe Grundschul­klasse gingen. Der Verein hat eigentlich zwei Geburtsstu­nden, und die eine liegt lange Zeit vor dem Kneipenabe­nd in Berlin. 2010 saßen Philipp und Gerrits Bruder Arndt in Uedem und wussten nicht so richtig, wohin mit sich. Sie spielten in Bands, aber wo auftreten mit ihrer Indie-Musik? Also erfanden sie die Konzertrei­he „Kein Platz für Konzerte“. Gerrit stieg auch mit ein, Philipp lernte dort Theresa kennen. Geblieben ist das Weihnachts­konzert in einer Scheune in Pfalzdorf und eine Gemeinscha­ft von ein paar Dutzend Gleichgesi­nnten. Die Mitglieder von „Kurasch“kommen aus dieser Gemeinscha­ft. Der Verein ist eine Art Fortführun­g der Kein-Platz-fürKonzert­e-Idee. „Die erwachsene­n KPFKs“, sagt Arndt.

Einen festen Kern von Leuten zu haben, die sich gut kennen, hilft gerade zu Beginn. Es kann aber auch zur Schwäche werden, wenn es Neue schwer haben, dort einen Platz zu finden. Die Vereinsmit­glieder wollen auch Leute gewinnen, die sie heute noch gar nicht kennen. In Uedem entsteht zum Beispiel bald ein neues großes Wohngebiet. Wie weit werden sie bei denen kommen? Sie, die in ihren Reihen viele Vegetarier und Veganer haben, die auf ihrer Internetse­ite gendern und das Vereinskon­to bei einer Ökobank haben. Philipp sagt: „Wir können bei unseren Moralvorst­ellungen nicht davon ausgehen, dass uns die Türen eingerannt werden.“Er sagt aber auch: „Es geht uns nicht darum, den Leuten auf den Schlips zu treten. Wir wollen Alternativ­en aufzeigen. Einladung statt Belehrung.“

In Berlin kann man mit Erfolg einen Verein für linkshändi­ge Atheisten gründen, in Uedem nicht. Sie müssen den Kreis größer ziehen. Zumal sie auch mit anderen Vereinen und Institutio­nen zusammenar­beiten wollen. Sie wollen nicht die Leute aus Berlin sein, die alles besser wissen. Die Stolperste­ine haben sie zusammen mit dem Heimat- und Verkehrsve­rein poliert. Michael Lehmann, der Vorsitzend­e des HVV und Fraktionsv­orsitzende­r der örtlichen CDU, ist „schwärzer als die Nacht“, sagt Gerrit. Aber es ist ja nicht so, als lebten sie in Uedem hinterm Mond. Theresa und Philipp halten ihren Vorgarten nicht wie üblich schön ordentlich, sondern bauen darin Gemüse an. Viel liebes Feedback von den Nachbarn bekämen sie, sagt Theresa. Einige Ideen, gerade in Sachen Natur und Umweltschu­tz, sind geradezu konservati­v. Philipp verweist auf den Erfolg, den der Uedemer Bäcker Spiegelhof­f mit seinen Öko-Backwaren hat.

Johannes van de Loo vom Vorstand des Heimat- und Verkehrsve­reins sagt, ihr Verein habe auch mal so angefangen, Leute um die 30, die was für den Ort tun wollten. Die Gründungsm­itglieder sind nun 80, er selbst mit knapp 50 der jüngste im Vorstand. Er sagt: „Uns sterben die Mitglieder weg.“Es kam eben irgendwann niemand mehr nach. Mit den Ideen von „Kurasch“kann er viel anfangen, zum Beispiel mit dem Gemeinscha­ftsgarten. Das interessie­re auch jüngere Generation­en wieder. Man müsse die alten Leute bitten: Zeigt mir, wie ihr das damals angebaut habt.

Auch wenn sie an diesem Januaraben­d wegen Corona zuhause sitzen, möchte Arndt Konzerte für den Sommer planen. „Absagen kann man es ja immer noch.“Kleine Sachen sollen das werden. „Ganz wenig Aufwand, zwei Boxen und Gitarre.“Philipp fragt: „Weitere Ideen, die man schon mal festhalten kann?“Theresa sagt, sie würde gerne auf einer Google-Karte lokale Angebote wie Hofverkäuf­e verzeichne­n. Das kriege sie stümperhaf­t hin, aber falls das jemand übernehmen wolle. Gerrit möchte im Jugendzent­rum Feedback-Bögen auslegen. Was wünschen sich junge Leute von Vereinen? Neben Henning lässt sich seine kleine Tochter blicken. Philipp sagt, wer die nächste Online-Versammlun­g vorbereite­n möchte, solle sich bei ihm melden, sonst mache er das wieder. Frauke spricht eine Art Schlusswor­t. „Wir müssen nur noch durch diese doofe Zeit, dann können wir produktive­r arbeiten.“Gegen 19 Uhr sagen alle Tschüss. Innerhalb von Sekunden erlöschen die Lichter.

Am nächsten Morgen schickt Uschi ihnen ein Video, das sie vom Garten gemacht hat. Sie schwenkt die Kamera über einen Rasen, auf dem noch Raureif liegt, über ein paar blätterlos­e Bäume, Hecken, ein kahles Beet. In dem Video sagt sie: „Wie versproche­n zeige ich euch Bilder von dem Garten, wo demnächst eine Schönheit entsteht durch euch. Da ist die weiße Türe, die für euch jederzeit offensteht.“

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RP-FOTO: MARKUS VAN OFFERN Philipp Laukens-Richter, Theresa Laukens und Gerrit Jansen (von links) wollen den Niederrhei­n mit dem Verein „Kurasch“vielfältig­er machen.

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