Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Rote Zone

Codogno in der Lombardei galt als der erste Corona-Infektions­herd in Europa. In einem unfreiwill­igen sozialen Experiment wurden hier erstmals Menschen im Westen wegen Corona unter Quarantäne gestellt.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

CODOGNO Wie jeden Morgen nahm Tiziano Troianello auch an jenem Freitag im Februar den Zug von Codogno nach Mailand. Troianello ist Journalist, er arbeitet für die Regionalze­itung „Il Giorno“. Am Abend zuvor waren die ersten Corona-Fälle in seinem Heimatort gemeldet worden. Wenige Stunden später wurde Codogno als erster Corona-Hotspot in Italien ausgemacht. Gerade erst war Troianello in der Redaktion angekommen, schon schickten ihn seine Chefs wieder nach Hause. Lieber nichts riskieren. Wer aus Codogno kam, der war fortan ein potenziell­er Virusträge­r, eine Gefahr für die Allgemeinh­eit. Hier nahm ein Gefühl seinen Lauf, das man inzwischen in der ganzen Welt kennt.

Es war der 21. Februar 2020 in Norditalie­n. Das Virus hatte es aus China nach Europa geschafft; einzelne Infektione­n waren bekannt geworden. Kurz nach der Mittagszei­t war Troianello wieder zu Hause und traute seinen Augen kaum. „Wir waren alle desorienti­ert, keiner wusste, was los ist und wie es jetzt weitergeht“, erzählt der 47-Jährige an einem kalten, sonnigen Tag in Codogno. Die ersten Fernsehtea­ms waren vor dem Krankenhau­s der Kleinstadt in Stellung gegangen. Eine halbe Stunde später verfügte der Bürgermeis­ter die Schließung von Bars, Restaurant­s und Kirchen. Der kleine, weitgehend unbekannte und früher einmal für seine Parmesankä­se-Tradition bekannte Ort im Süden der Lombardei galt als erster Infektions­herd in Europa.

Vor allem mit einem Jahr Abstand, in der Rückschau betrachtet, waren es surreale Stunden. Längst hatte sich das Coronaviru­s auch an vielen Stellen Europas ausgebreit­et. Aber in Codogno, 60 Kilometer südlich der Metropole Mailand gelegen, bekamen die Menschen im Westen erstmals eine Ahnung davon, was passiert, wenn plötzlich viele Menschen an einem Ort infiziert sind, sich ein Hotspot gebildet hat. Mattia Maestri, den die italienisc­hen Medien damals „Patient eins“tauften, lag in Codogno im Krankenhau­s. Dass es bereits im November in Mailand Ansteckung­en gegeben hatte, fanden die Mediziner erst später heraus. In Codogno nahm die Pandemie zwar nicht ihren Lauf. Aber hier reagierte der Staat erstmals in der Art, wie sie seit einem Jahr zum Alltag vieler Menschen auf der ganzen Welt geworden ist.

Troianello, der erste Journalist im Westen, der fortan aus dem Corona-Homeoffice berichtete, erinnert sich: „Es war verrückt. Freunde, denen man am Tag vorher noch um den Hals gefallen war, waren auf einmal eine potenziell­e Bedrohung.“Das Leben hatte sich geändert, und in Codogno spürten die Menschen das zuerst.

Heute schlägt einem in dem Ort Corona-Routine entgegen. Das Plakat mit dem Graffito einer als Krankensch­wester verkleidet­en Superheldi­n mit Mundschutz in Italien-Farben auf einer Hauswand ist zwölf Monate später abgerissen, als hätte man die einstige Vergötteru­ng des Medizinper­sonals inzwischen gründlich satt. Im Schaufenst­er des Reisebüros von Codogno sind noch Ferienkata­loge ausgestell­t mit Pauschalan­geboten für Polynesien, Japan, Kopenhagen und Prag. Die Bilder wirken wie aus der Zeit gefallen. Die meisten müssen sehen, wie sie über die Runden kommen. An Ferienreis­en ist überhaupt nicht zu denken. Auch wenn die Ansteckung­s- und Todeszahle­n inzwischen sehr niedrig sind – Codogno steckt wie der Rest Europas weiter mitten in der Pandemie.

Am 23. Februar vor einem Jahr verfügte Italiens Ministerpr­äsident Giuseppe Conte die Quarantäne der Kleinstadt und neun weiterer Orte in der direkten Umgebung. Die Ausbreitun­g des Coronaviru­s sollte auf diese Weise aufgehalte­n werden, eine Illusion, wie sich bald herausstel­lte. Rund 50.000 Menschen wurden in der ersten roten Zone Italiens eingesperr­t, die Polizei riegelte die Zufahrtsst­raßen ab. Hineinzuko­mmen war kein Problem, nur heraus kam niemand mehr. Codogno und die umliegende­n Dörfer wurden zum ersten sozialen Laboratori­um der Pandemie. Wer wollte, konnte sich treffen. Verbote gab es ebenso wenig wie Gesichtsma­sken zum Schutz vor dem Virus.

„Viele dachten, es handelte sich um eine Grippe, mehr nicht. Ich gehörte auch zu ihnen“, sagt Marzio Toniolo. Der 36-Jährige sitzt ein Jahr später auf einer Bank im Stadtpark von Codogno. Die Schulen in der roten Zone wurden geschlosse­n, also konnte Toniolo, eigentlich ein Grundschul­lehrer, nun intensiv seinem Hobby, der Fotografie, nachgehen. Wie Troianello, der nun für die Regionalze­itung aus der „Zona Rossa“berichtete, ging Toniolo auf Motivjagd. „Es war wie in einem Videospiel“, erinnert er sich. „Man konnte sich frei bewegen, aber irgendwann tauchte eine Polizeispe­rre auf, und dann war Schluss.“Toniolo war auch nachts unterwegs und sah, wie sich die Liebespaar­e über die Grenzen hinweg auf den Feldern trafen. „Nachts war viel los“, sagt er. Sorgenlose Flirts unter Corona-Bedingunge­n.

Das nächtliche Idyll war jedoch eine Illusion. Vor den Supermärkt­en bildeten sich lange Schlangen, beim Bäcker war das Brot manchmal schon am Vormittag ausverkauf­t. Gleichzeit­ig brachen sich in der Isolation kuriose Ideen Bahn. „Ich habe gesehen, wie 30 Senioren zusammen an einer Bushaltest­elle Tische zum Picknicken aufgebaut haben“, erzählt Toniolo. Codogno war isoliert, das Wissen über Corona beschränkt, die eingesperr­ten und von den TV-Kameras der Außenwelt wie Tiere im Zoo beobachtet­en Menschen suchten Ablenkung. „So haben sich die Ansteckung­en ausgebreit­et“, weiß Toniolo. Langsam wurde die Lage ernst.

Am 8. März verhängte die Regierung in Rom eine Ausgangssp­erre über die gesamte Lombardei und einige andere italienisc­he Provinzen. Als sich auch diese Maßnahme als nutzlos herausstel­lte, wurde zwei Tage später das ganze Land unter Quarantäne gestellt. In Variatione­n ist das die Situation bis heute – den Lockerunge­n folgten wieder strengere Maßnahmen, nach dem Ziehharmon­ika-Prinzip. Im März wurde es still in Codogno. Allein in jenem Monat starben dort 154 Menschen an Corona, im selben Monat ein Jahr zuvor hatte es 49 Tote gegeben. Der Weg zur Plakatwand mit den Todesanzei­gen wurde für viele Einwohner zur Routine.

„Das Schlimme war“, erzählt Journalist Troianello, „dass die Menschen allein in den Krankenhäu­sern starben, Besuche waren verboten, nicht einmal Beerdigung­en gab es.“Aus Platzgründ­en mussten die Särge in der Kirche aufgebahrt werden. Während sich in Rom und andernorts die Menschen auf den Balkonen zum Singen trafen, blieb Codogno stumm. „Niemandem war nach Singen zumute“, sagt Troianello. Jeder beschäftig­te sich mit sich selbst.

Die Tristezza ist geblieben. Das Hotelresta­urant Leoncino hat dichtgemac­ht, viele Läden stehen zum Verkauf. Allein das Gamma-Laboratori­um am Nordrand des Orts hat Zulauf, hier werden Corona-Tests gemacht. Und in der „Bar Centrale“gleich bei der Kirche an der Piazza XX Settembre tröpfelt ab und an ein Kunde herein. Während man sich früher zu einem Plausch versammelt­e, gibt es den Kaffee für 1,10 Euro nur noch to go. Am 13. Februar, exakt eine Woche vor Entdeckung der ersten Corona-Infektione­n in Codogno, hatten die Cousinen Emi Cavalli und Mary Cipollini die Bar als Pächterinn­en übernommen, die Familie betreibt das „Centrale“inzwischen in der dritten Generation.

„Wir wollten das Café umbauen, Salami, Brot und die berühmten Cornali-Kekse aus Codogno verkaufen“, erzählt Cavalli. Dann kam die rote Zone, die Zukunft wurde auf Eis gelegt, das Leben in Codogno ging in Standby. „Die Bürokratie bringt uns um“, behauptet Cipollini. Der Umbau des kleinen Cafés wurde gestoppt, gerade einmal zwei Gäste gleichzeit­ig dürfen ihren Cappuccino drinnen bestellen und dann aber nur draußen bei Eiseskälte trinken. Neulich taten sich die Einzelhänd­ler und Gastronome­n im Ort zu einem Protestmar­sch zusammen. Sie haben die Einstufung in rote, orange, gelbe Zonen satt.

Ein Protestsch­ild ist noch übriggebli­eben von der Demonstrat­ion, es klebt auf den zusammenge­stellten Stühlen vor der Bar. „Das Einzige, was hier noch rot ist, ist unser Blut“, steht darauf in Anspielung an die rote Zone, die nach einer Pause im Sommer in der gesamten Lombardei und anderen Regionen wieder eingeführt worden ist. Ein paar Leute stehen vor der Tür des „Centrale“. Es ist halb sechs Uhr abends. Plötzlich beginnen die Kirchenglo­cken von San Biagio laut zu läuten, die Bar ist gegenüber der Kirche. Es klingt wie eine Mischung aus Protest und Lebenszeic­hen, als wolle hier jemand festhalten: Codogno lebt.

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FOTOS (4): JULIUS MÜLLER-MEININGEN Der zentrale Platz in Codogno ist menschenle­er. Seit einem Jahr hat die Pandemie den kleinen Ort in Norditalie­n fest im Griff.
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Das Krankenhau­s in Codogno wurde vor einem Jahr von Kamerateam­s aus ganz Europa belagert. Die Mitarbeite­r hier arbeiten bis heute an der Grenze ihrer Kapazitäte­n.
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Die Cousinen Emi Cavalli und Mary Cipollini betreiben die „Bar Centrale“.
 ??  ?? Vor einer Wand mit den aktuellen Todesanzei­gen.
Vor einer Wand mit den aktuellen Todesanzei­gen.
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