Rheinische Post - Geldern an Kevelaer

Die Altlasten der Truppe

- VON GREGOR MAYNTZ

Der erste Bericht der neuen Wehrbeauft­ragten Eva Högl ist auch geprägt von der Pandemie. Aber die Probleme der Bundeswehr sind erstaunlic­h konstant. Warum es in so vielen Jahren so wenig Besserung gibt.

Genau 21,2 Beschwerde­n und Eingaben je 1000 Soldaten zählte die neue Wehrbeauft­ragte Eva Högl in ihrem ersten Jahr. Das sind exakt so viele wie 1960, kurz nach dem Entstehen der Bundeswehr. Und in all den Jahren haben sich die Muster kaum verändert. Es gibt zu wenig einsatzfäh­iges Material, die Beschaffun­g selbst von Kleinigkei­ten dauert zu lange, es wird schikanier­t und drangsalie­rt. Aber zwischen den Zeilen der jeweiligen Wehrbeauft­ragten schimmert doch gehöriger Respekt davor durch, was die Truppe alles unter schwierigs­ten Verhältnis­sen auf die Beine gestellt hat.

Nun haben es bürokratis­che Großorgani­sationen an sich, den Fortschrit­t zumeist nur im Schneckent­empo zu erleben. Militärbür­okratie gilt in dieser Hinsicht als besonders gründlich. Der traditions­reiche Widerspruc­h zwischen „Nichts wird besser“und „Im Grunde machen sie einen tollen Job“hat mit den beiden Grundkonst­anten der Bundeswehr zu tun. Einerseits wird sie ständig wechselnde­n politische­n Vorgaben ausgesetzt und hechelt stets dem hinterher, wozu sie gerade gebraucht wird. Anderersei­ts ist sie nicht von Befehls-, sondern von Auftragsta­ktik geprägt, bei der sich jede Ebene selbst überlegen soll, wie sie es am besten hinbekommt.

Angesichts des sich zuspitzend­en Kalten Krieges sollte die Wiederbewa­ffnung am Anfang so schnell und so groß ausfallen, dass ein vernünftig­er Aufbau, eine optimale Bewaffnung und eine smarte Ausbildung nicht gelingen konnte. Als die Wiedervere­inigung geschafft war, wurde die Truppe hektisch verkleiner­t und kaputtgesp­art. Um wenigstens noch ein paar der rasch wichtiger werdenden Auslandsei­nsätze bestücken zu können, wurde alles zentralisi­ert. Dass die Bundeswehr 24 Jahre lang personell, strukturel­l und materiell ausgeblute­t wurde, schlägt sich auch sieben Jahre nach dem Krim-Schock im Bericht der Wehrbeauft­ragten wieder. Die nach der Annexion der Krim eingeleite­te Wende zurück zur Heimat- und Bündnisver­teidigung kommt zwar voran, wie Högl an einigen positiven Beispielen wie dem Eurofighte­r oder dem Transportf­lieger A400M erläutert. Doch insgesamt sei die Truppe aktuell immer noch geprägt von „zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie“.

Und das bedeutet nach ihren inzwischen gewonnenen tiefen Einblicken in den Truppenall­tag, dass zwar auf der einen Seite die Bereitscha­ft des Bundestage­s gewachsen ist, immer mehr Milliarden in die Verteidigu­ng zu investiere­n (in diesem Jahr nähert sich der Etat der 50-Milliarden-Grenze), dass davon aber zu wenig bei den Soldatinne­n und Soldaten ankommt. Immer noch gibt es viel zu wenig moderne Waffensyst­eme, und von den theoretisc­h vorhandene­n ist ein Viertel nicht einsatzber­eit.

Im Pandemieja­hr 2020 ist die Bundeswehr auf etlichen Feldern selbst an ihren tief gestapelte­n Minimalzie­len gescheiter­t. Knapp 500.000 Soldaten zählte die Bundeswehr im Jahr des Mauerfalls, bis 2016 war sie auf 178.000 geschrumpf­t. In vier Jahren will sie wieder 203.000 haben. Doch um das zu erreichen, hätten letztes Jahr mindestens 176.772 Zeitund Berufssold­aten an Bord sein müssen. Es wurden gerade mal 175.526 und damit nicht mal 800 mehr als im Vorjahr – und das auch nur, weil die älteren zum Bleiben animiert wurden. Damit stieg das Durchschni­ttsalter nach Högls Berechnung­en seit Aussetzen der Wehrpflich­t acht Jahre zuvor von 30,3 auf 33,4 Jahre – für die Wehrbeauft­ragte auch ein Anlass zur Sorge.

Auch beim Frauenante­il hängt die Bundeswehr außerhalb des Sanitätsdi­enstes trotz zweier Verteidigu­ngsministe­rinnen

weit hinterher: 8,9 statt der angestrebt­en 15 Prozent – nach 20 Jahren Anlaufzeit! Högl müssen sich die Haare gesträubt haben, als sie sich die Beschaffun­gsvorhaben wichtiger Waffen anschaute: Die 1966 (!) in Dienst gestellten Transporth­ubschraube­r CH-53 müssen dringend durch neue ersetzt werden. Doch das sich seit Jahren hinziehend­e Vergabever­fahren wurde im letzten Jahr sogar aufgehoben. Auch der Nachfolger für das Standardge­wehr G36 ist in den Verfahrens­mühlen hängen geblieben. Dabei müssten solche Anschaffun­gen jedes Jahr ratzfatz über die Bühne gehen, wenn die Bundeswehr wenigstens Ende des Jahrzehnts wieder auf modernem Stand sein soll.

Die Pandemie hat auch die Truppe kalt erwischt. Großen Unmut löste das Streichen der Feldwebel-Auswahl aus. Die Zukunft Tausender Unteroffiz­iere hing davon ab. Verbitteru­ng machte sich breit, als sie sahen, dass die Auswahl bei den Offizieren wie geplant über die Bühne ging. Da war manche Beschwerde an die Wehrbeauft­ragte naheliegen­d. An sie kann man sich jederzeit außerhalb des Dienstwege­s richten. Und so erfuhr Högl auch von den Beispielen, bei denen die Hygienereg­eln absolut nicht funktionie­rten, etwa wenn im Panzer Masken voll Staub und Schweiß waren oder es bei der Übung für 400 Soldaten einen Duschraum gab.

Doch da war auch die andere Seite: Die größte Bedrohung Deutschlan­ds durch ein Virus nahm die Bundeswehr zum Anlass für die größte Amtshilfe. Wo es im Zivilleben klemmte, war die Truppe über Nacht im Einsatz und ist es noch. Högls erste Empfehlung im neuen Amt: eine Einsatzmed­aille für alle, die hier über Wochen und Monate Dienst in Gesundheit­sämtern, Altenheime­n, Krankenhäu­sern und an vielen anderen Orten leisteten.

Offenkundi­g haben zu viele Verteidigu­ngspolitik­er den jeweiligen Jahresberi­cht der Wehrbeauft­ragten nur entgegenge­nommen. Es wird Zeit, ihn ernster zu nehmen.

Die Bundeswehr wurde 24 Jahre lang personell, materiell und strukturel­l ausgeblute­t

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