Rheinische Post - Geldern an Kevelaer
Ein trauriges Arbeitszeugnis
Weil die nötigen Mittel investiert werden, registriert die Polizei in NRW mehr Fälle von Kindesmissbrauch als je zuvor.
DÜSSELDORF Erst seit wenigen Tagen sitzt ein 53-Jähriger aus Köln in Untersuchungshaft, der Kinder sexuell missbraucht haben soll. Vor einer Woche hat die Polizei die Wohnung des Mannes durchsucht und dabei Dateien sichergestellt, die auf aktuelle sexuelle Missbrauchstaten hinweisen. Kurze Zeit später identifizierten Ermittler der Polizei anhand des Materials ein elfjähriges Mädchen aus dem Kölner Umland sowie einen 13-jährigen Jungen aus Bayern. Aufmerksam geworden war die Polizei auf den Mann durch vorangegangene Ermittlungen im Kindesmissbrauchskomplex Bergisch Gladbach.
Im vergangenen Jahr hat die Polizei in NRW so viele Fälle von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bei Kindern unter 14 Jahren (inklusive Versuchen) registriert wie vermutlich nie zuvor. Wie das Innenministerium unserer Redaktion auf Anfrage mitteilte, wurden für das Jahr 2020 landesweit 4304 solcher Fälle verzeichnet; 2019 waren es 3590 Fälle. Zum Vergleich: Vor 14 Jahren lag die Zahl bei 2793 Fällen – und war bis zum Jahr 2016 auf 2334 gesunken. Seitdem aber zeigt die Kurve nach oben.
Nach Angaben des Innenministeriums wurden im vergangenen Jahr 300 Kinder (bis 13 Jahre), 521 Jugendliche (14 bis 17 Jahre), 213 Heranwachsende (18 bis einschließlich 20 Jahre) und 1734 Erwachsene als Tatverdächtige in der Polizeistatistik erfasst. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. „Der Anstieg ist ein trauriges Arbeitszeugnis unserer Anstrengungen. Weil wir hinsehen und konsequent verfolgen, finden wir mehr“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) unserer Redaktion. „Dass Kindesmissbrauch überall passiert, muss für uns als Gesellschaft noch stärker in unsere Vorstellungskraft rücken“, sagte Reul.
Die Deutsche Polizeigewerkschaft führt die gestiegenen Zahlen ebenfalls auf erhöhten Ermittlungsdruck zurück. Deren Landesvorsitzender, Erich Rettinghaus, sagt dazu: „Es sind deutlich mehr Ressourcen in die Bekämpfung von Kindesmissbrauch gesteckt worden – sowohl Personal als auch Technik. Das zahlt sich aus, wie die Zahlen zeigen.“Nach Angaben des Innenministeriums wurde das Personal bei der Polizei in dem Bereich vervierfacht – von 100 Ermittlern auf 400. Zudem seien viele Millionen Euro in Technik investiert worden – bis Jahresende sollen es rund 32,5 Millionen Euro sein. „Hinzu kommt das digitale Großraumbüro, in dem Landeskriminalamt und die 47 Kreispolizeibehörden eng miteinander venetzt sind“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums.
Ursula Enders von der Kontaktund Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen „Zartbitter“in Köln sieht auch einen gesellschaftlichen Wandel als Grund. „Das Problembewusstsein in der Gesellschaft hat sich verändert. Es wird mittlerweile mehr zur Anzeige gebracht als früher“, sagte sie. Bis vor nicht allzu langer Zeit habe noch das Bewusstsein vorgeherrscht, sich nicht bei der Polizei zu melden, weil es ja habe sein können, dass man jemanden zu Unrecht beschuldige. „Jetzt es ist andersherum. Jetzt steht der Gedanke an das mögliche Opfer im Vordergrund“, so Enders.
Am 25. Februar wird sich der Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend des nordrhein-westfälischen Landtags mit dem Thema beschäftigen und ein neues Handlungs- und Maßnahmenkonzept der Landesregierung im Bereich „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“besprechen. Als sexueller Missbrauch an Kindern wird laut dem Handlungs- und Maßnahmenkonzept jede sexuelle Handlung bezeichnet, die an oder vor einem Kind gegen dessen Willen vorgenommen wird oder der es aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Demnach findet sexualisierte Gewalt am häufigsten in Familien statt (etwa 25 Prozent der Fälle) sowie im sozialen Umfeld und im weiteren Familienoder Bekanntenkreis (etwa 50 Prozent) – etwa durch Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder.
In Nordrhein-Westfalen sind in den vergangenen Jahren drei große Missbrauchskomplexe bekanntgeworden: in Lügde, in Münster und in Bergisch Gladbach, wo im Oktober 2019 im Haus eines Mannes Unmengen kinderpornografischer Daten gefunden worden waren. Dadurch stießen die Ermittler auf Hunderte weitere Verdächtige in ganz Deutschland – wie zum Beispiel den 53-Jährigen aus Köln. Ausgangspunkt der Ermittlungen gegen ihn waren laut Polizei, dass der Mann unter falschen Angaben zu seiner Person Kinder auf Social-MediaPlattformen veranlasst haben soll, auch gegen Geld kinderpornografische Fotos und Videos anzufertigen und ihm dann zu übersenden.